Erotische Avantgarde

Späte Ehrung für Carol Rama, Lebenswerk-Löwe für Michelangelo Pistoletto


Carol Rama
Carol Rama

Die Frau ist ein Phänomen. Mit 85 Jahren scheint Carol Rama noch kein bisschen müde und ist als Künstlerin aktiv wie eh und je. Sechs Jahrzehnte lang hat sie unermüdlich gearbeitet, ihre Vision der Welt dargestellt, ihre Kindheitserfahrungen verarbeitet. Sie hat geschockt und begeistert. Sie hat sich weiterentwickelt und ist doch ihren Themen treu geblieben. Dennoch erhielt die italienische Avantgardistin am Samstag auf der Kunst-Biennale in Venedig ihre erste öffentliche Auszeichnung: Den Goldenen Löwen für ihr Lebenswerk.

Bereits in den 30er Jahren begann Carol Rama mit Zeichnungen und Aquarellen, ihren innersten Gefühlen Ausdruck zu verleihen. Ihre Themen waren frei und instinktiv, dabei gleichzeitig ordinär und skandalträchtig. Zunächst malte sie Klobürsten, Pissoirs, Geschlechtsteile und Gebisse. Nach dem Selbstmord ihres Vaters und der Einlieferung ihrer Mutter in eine psychiatrische Klinik versuchte sie, ihre Erlebnisse auf Papier zu bringen. "Nur wenn ich malte und zeichnete, fühlte ich mich frei von Angst", sagt Rama.

Phalli und Vaginas

Die gebürtige Turinerin hat stets die Gabe besessen, die erotische Ausstrahlung von Dingen zu sehen, die andere Menschen schlicht abschrecken. Ein Überbleibsel aus ihren Besuchen bei der Mutter in der Psychiatrie, wo junge Patientinnen ihre Beine spreizten, die Zunge herausstreckten, sich nackt vor ihr auszogen. "Die Verrücktheit ist nichts, was uns fern ist", ist ihr Credo.

Phalli, Vaginas und deformierte, verstümmelte Körper stehen im Mittelpunkt ihrer künstlerischen Phantasie - oft sind es Eindrücke ihrer Jugend. So wie bei der immer wiederkehrenden "Appassionata" ("Die Leidenschaftliche"), die Rama auf ihren Blättern mal ohne Arme und Beine, mal im Rollstuhl darstellt.

Material-Kompositionen

Nach dem Zweiten Weltkrieg trat Rama der Bewegung der "Arte Concreta" bei. Sie entfernte sich von den Schreckensbildern und begann die Sequenz der "bricolage" mit abstrakten Hintergründen und verschiedensten Objekt- und Material-Kompositionen. Erst in den 80er Jahren kehrte sie zu den pornographischen und lüsternen Themen zurück - immer farbiger, immer intensiver. 1993 wurden ihre Arbeiten auch erstmals öffentlich anerkannt, als ihr die Biennale einen eigenen Saal widmete. Dennoch sind Ramas Arbeiten im Hintergrund geblieben - bis zur Biennale 2003.

Bei der 50. Kunstbiennale in Venedig, die Samstag offziell eröffnet wurde, wurde neben Rama auch der italienische Maler und Objektkünstler Michelangelo Pistoletto mit einem Löwen für das Lebenswerk ausgezeichnet.

Die Kunst Pistolettos

Pistoletto gehört zu den bekanntesten italienischen Künstlern der Nachkriegszeit, die mit ärmlichen und banalen Materialien ein neues Konzept der Verbindung von Kunst und Leben kreierten.

Michelangelo Pistoletto
Michelangelo Pistoletto

Als führender Protagonist der "Arte povera" schuf Pistoletto in den sechziger Jahren unter anderem die "Minus-Objekte", mit denen der Anspruch auf einen identifizierbaren Stil und eine persönliche künstlerische Handschrift aufgegeben wurde. Pistolettos Reflexionen über Raum und Zeit geraten in der Ausstellung des Museums Moderner Kunst in Nachbarschaften, die zu neuen Interpretationen zwingen.

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