Kunst, die von innen kommt
Als er nach Gugging kam, hatte Leo Navratil hier schon zwei Jahrzehnte lang mit den künstlerisch talentierten Patienten gearbeitet. Johann Feilacher, Psychiater und Bildhauer, der sich in seiner eigenen Kunst vornehmlich mit dem Material Holz beschäftigt, war stets von den Künstlern aus Gugging fasziniert. „Das Besondere für mich ist es, zusehen zu können, wie künstlerische Kreativität ohne Einflüsse von außen sichtbar wird. Da gibt es keine Vorbereitungen durch Kunstschulen, Akademien, kein Schielen auf den Kunstmarkt. Diese Kunst kommt von ganz innen heraus“, sagt Feilacher, der das Haus der Künstler seit 1986 leitet. Der gebürtige Villacher, der in Graz studiert hat, war stets um eine „gehobene gesellschaftliche Position“ seiner Klienten bemüht. In den vor Ort geschaffenen Arbeiten sieht er keine Therapiezeichnungen, sondern eben Kunstwerke.
„Zur Psychiatrie bin ich eigentlich über das Malen von Porträtbildern gekommen. Mich hat interessiert, was hinter der Mimik, hinter den Gesichtern steckt“, sagt Feilacher, der drei Jahre lang in Graz den Beruf des Psychiaters ausgeübt hat. Dann kam die Einladung, in Gugging mitzuarbeiten. In die niederösterreichische Gemeinde sei er mit dem Wunsch gegangen, ein professionelles System mit Museum, Ateliers, Veranstaltungsräumen und einer Galerie aufzubauen. All dies ist mittlerweile in die Realität umgesetzt.
Vertrieben werden die Zeichnungen, Malereien und Skulpturen durch eine Galerie, eine private Gesellschaft, die im Besitz der Künstler ist. Wie auf dem freien Markt auch werden die erzielten Erlöse geteilt: 50 Prozent für die Galerie, 50 Prozent für den Künstler. Kunst aus Gugging ist seit einigen Jahren sehr gefragt, kooperiert wird mit weltweit rund 30 Galerien, unter anderem in Tokio, Paris und Chicago. „Wenn es zu internationalen Präsentationen oder Museumsausstellungen kommt, ist dies auch günstig für das Selbstwertgefühl und das Selbstvertrauen der Künstler. Die über die Kunst erzielten Einnahmen erhöhen die subjektive Freiheit. Die unter Sachwalterschaft Stehenden können sich Annehmlichkeiten, von Zigaretten oder CDs bis zu Flachbildschirmen und Reisen nach New York, leisten.“
In Gugging würden, sagt Johann Feilacher, keine Themen vorgegeben: „Es gibt ein unausgesprochenes Generalthema bei den Arbeiten, das ist das Leben.“ Jeder der Künstler nähere sich auf unterschiedliche Weise dieser Thematik an. „Karl Vondal taucht etwa in den sexistischen Bereich ein, Leonhard Fink ist an Architekturen und ganzen Städtebildern interessiert, Johann Hauser war von den Frauen fasziniert, Tschirtners Kunst ist stets um das Thema Mensch gekreist“, berichtet Feilacher, der zu jedem der Künstler eine intensive Beziehung aufgebaut hat. Derzeit leben zehn Klienten im „Haus der Künstler“, neun Männer und – erst das zweite Mal in der Geschichte – eine Frau. In Gugging gebe es keine fixe Arbeitszeiten, betont Leiter Feilacher: „Man kann rund um die Uhr arbeiten, viele nützen das Atelier, andere greifen lieber im eigenen Zimmer zu Zeichenpapier, Pinsel und Farbe.“ Ob es zwischen den kreativen Bewohnern auch zu Eifersüchteleien und Rivalitäten komme? „Ja, aber es geht dabei nicht um die Kunst. Man kann sich das wie in einer Großfamilie vorstellen, in der es auch immer wieder zu Verstimmtheiten und Verärgerungen kommt. Die Gründe dafür liegen aber im persönlichen Bereich.“ Wenn es darum geht, Werke für Ausstellungen auszuwählen, wird Johann Feilacher aktiv. Ausschlaggebend seien für ihn ausschließlich Qualitätskriterien: „Da bin ich ganz streng, aber das muss ich sein, sonst können wir langfristig international nicht konkurrenzfähig bleiben.“ Zufrieden ist Johann Feilacher mittlerweile mit den Lebens- und Arbeitsbedingungen der Gugginger Künstler. Die insgesamt 2,3 Millionen Euro teure Sanierung und Erweiterung des Wohnhauses, das um 1890 noch als Infektionsabteilung und später als Trinkerheilanstalt fungiert hat, ist jetzt abgeschlossen.
Johann Feilacher agiert in Gugging als Betreuer, als Vertrauensperson und Freund, aber auch als Manager und Museumsdirektor. Die Krankheiten und Leiden der Künstler werden von ihm nicht ausgeblendet, aber nicht offensiv nach außen getragen: „Bei einem renommierten Künstler spielt es doch auch keine Rolle, ob er etwa eine schwere Lebererkrankung hat oder nicht. Die Werke sind entscheidend.“
Das Art/Brut Center in Gugging versteht Feilacher als Treffpunkt für jüngere und ältere Talente aus aller Welt. „Der Schrägstrich zwischen Art und Brut soll die Öffnung auch für die Kommunikation mit anderen Richtungen der Kunst aufzeigen: Ein Treffpunkt für Diskussion und Diskurs, auch Gegensätzliches soll hier vereint gezeigt und akzeptiert werden“, schreibt Feilacher im 2006 erschienenen Buch „Gugging. Ein Ort der Kunst“ (Christian Brandstätter Verlag).
Aus einer Vielzahl an positiven Reaktionen über das 1990 mit dem Oskar-Kokoschka-Preis ausgezeichnete Künstlerkollektiv ragt ein Schreiben des bekannten Malers, Bildhauers, Collage- und Aktionskünstlers Jean Dubuffet heraus. Der Franzose, einer der Hauptvertreter der Art Brut („rohe, unverbildete Kunst“), schrieb dereinst: „Ich bin über die große Zahl von Fällen mit erfinderischer Kreativität, die unter den Pensionären Ihres Krankenhauses zutage treten, erstaunt.“ Solche Manifestationen persönlicher Erfindungskraft sind laut Dubuffet nur selten entweder in psychiatrischen Spitälern oder außerhalb derselben anzutreffen.
Zum Jubiläum, das am 21. Juni mit einem Festakt begangen werden wird, hat Johann Feilacher die Ausstellung „guggging.! 25 Jahre“ kuratiert. „Die Schau soll die internationalen Erfolge der Gugginger Künstler aus dem vergangenen Vierteljahrhundert aufzeigen“, sagt der 57-Jährige. Konkret werden Arbeiten zu sehen sein, die in bedeutenden internationalen Medien abgebildet wurden. Weiters zu sehen: Ausstellungsplakate unter anderem vom Philadelphia Art Museum, dem Setagaya Art Museum in Tokio und dem Amos Anderson Museum in Helsinki. Die rund 70 Originalwerke umfassende Schau wird bis März 2012 geöffnet sein.