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17. April 2009
18:04 MESZ

Martin Sexl, Arno Gisinger, "Hotel Jugoslavija" € 29,90 / 208 S. Studien Verlag, Innsbruck 2008

Hinweis:
Eine Fotoausstellung zu diesem Buch ist noch bis zum 25. 4. in der Hauptbücherei am Gürtel (Urban-Loritz-Platz 2a, 1070 Wien) zu sehen.

 
Balkan-Bildern auf der Spur
Vielschichtig und differenziert: Martin Sexl und Arno Gisinger erforschen ein komplexes Gemenge von Metaphern, Mythen und Realitäten

Der große jugoslawische Literaturwissenschafter Zoran Konstantinović erinnerte sich, wie im "Bosnien-Krieg" einige Tage von Sendung zu Sendung die Bombardierung eines Friedhofs gezeigt wurde. Die Botschaft war: "Die Serben" schrecken nicht einmal davor zurück. Konstantinović wies den ihm bekannten Intendanten darauf hin, dass es sich um einen serbischen Friedhof handelte. Die Antwort: "Lieber Professor, das interessiert uns überhaupt nicht."

Diese Anekdote ist zwar nicht symptomatisch für die (nie homogene) westliche Balkan-Berichterstattung, sie verdeutlicht aber, dass neben dem gängigen, Serbien-kritischen Bild noch mindestens ein weiteres Existenzberechtigung besitzt. Den Spuren dieser unterschiedlichen Balkan-Bilder folgen Martin Sexl, Literaturwissenschafter und Kulturhistoriker, und Arno Gisinger, Fotograf und Historiker, in "Hotel Jugoslavija", einem mit Literatur und wissenschaftlicher Reflexion angereicherten Reisebericht über Belgrad und Srebrenica, in dessen Mittelpunkt nicht die Geschehnisse, sondern ihre kontroverse Rezeption und Perzeption stehen.

In Kombination aus Text und Bildband werden Wahrnehmung, Erinnerung und Interpretation, Realität und Mythos anhand von Texten und Erzählungen Betroffener nachgezeichnet. Den Autoren gelingt es dabei, den Blick des Lesers auf die Grautöne, auf die Nuancen zwischen den Zeilen zu lenken, ohne einseitig oder parteiisch zu wirken, zu differenzieren, ohne Verantwortung zu relativieren. Mit Jacques Derrida erinnern Sexl und Gisinger an die Unmöglichkeit objektiven Betrachtens, daran, dass selbst die Begriffe für übergeordnete Instanzen letzten Endes nicht die Realität bezeichnen, sondern Metaphern und Metonymien sind.

So widmen sich die Autoren auch dem kulturellen Konzept und dem Mythos der Mitteleuropa-Diskussion, innerhalb derer Peter Handkes umstrittenes poetisches Bild Jugoslawiens als "eine Möglichkeit für Europa" nur ein Beispiel für die intensive und kontroverse Beschäftigung der Intellektuellen mit Jugoslawien in den 1990er-Jahren darstellt. Sexl und Gisinger geht es nicht nur um die Debatte, sondern auch um die Frage der Darstellbarkeit, um Fiktion und Fakten und um Sprache. Diese Entstehungsbedingungen von Wahrnehmungsmustern zu reflektieren, macht das Buch besonders wertvoll. Gerade der "Blick von außen", die Auseinandersetzung der Intellektuellen, legte Kontinuitäten und idealistische Konzepte offen, die oft mehr über Westeuropa und die Standortbestimmungen aussagten denn über Jugoslawien.

Als Quellen dienen "Hotel Jugoslavija" Zeichen, persönliche Wahrnehmung und Interviews, welche optisch leserfreundlich präsentiert sind. Zu den Zeichen gehören Texte, Bilder und Filme sowie die wissenschaftlich reflektierten Eindrücke der Reisenden in literarischer und photografischer Form. Den Fotos ist durchgängig eine eigene Seite gewidmet, sie bleiben ohne sprachliche Erklärung und können so ihr Potenzial als essenzieller Teil der Wahrnehmung und Interpretation beim Leser entfalten.

Die Erzählungen und Gespräche mit Konstantinović, dessen Andenken das Buch gewidmet ist, finden sich, wie weitere Zitate, in eigens formatierten Kolonnen. Damit wird das Werk dem Anliegen der Autoren, es "je nach Zweck und Interessenlage, ja vielleicht auch je nach Lust und Laune" als Werkzeugkiste zu verstehen, gerecht. Allenfalls hätte in den Exzerpten konsequenter nach Primärquellen zitiert werden können, da die Autoren sich einerseits mit Darstellungen, Wahrnehmung und Bildern beschäftigen und andererseits Historiker sind. Slowenien ist bereits EU-Mitglied, weiteren ehemaligen Republiken wurde Aufnahmebereitschaft signalisiert. Vor diesem Hintergrund ist eine kritische Überprüfung des westlichen Jugoslawien-Bilds sinnvoll und nützlich. Jugoslawien wurde nie erzählt, meinte Peter Handke vor einiger Zeit. Das Buch von Sexl und Gisinger erhebt zwar nicht diesen Anspruch, doch es weicht durch seine Vielschichtigkeit und Differenzierungen festgefahrene Eindrücke auf, womit zu einem neuen, vielleicht realistischeren Bild beitragen kann. Deshalb ist Hotel Jugoslavija nicht nur ein spannendes, sondern auch ein wichtiges Buch. (Kurt Gritsch, ALBUM - DER STANDARD/Printausgabe, 18./19.04.2009)

 

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