Dieser Hype ist christlich und klassisch
Christoph Schlingensief beginnt mit einem Wutanfall auf das Christentum im Allgemeinen und die katholische Kirche im Besonderen. Am Rande des Lebens, zu dem ihn seine Krebserkrankung geführt habe, falle ihm auf, „wie viele Schwarzmaler im Christentum unterwegs sind. Leute, die düstere Botschaften verbreiten, sie aber unter der sogenannten Frohen Botschaft verstecken“, schreibt er im Programmheft für sein jüngstes Bühnenwerk, das Ende der Vorwoche am Burgtheater in Wien uraufgeführt worden ist. Er wettert gegen einen Artikel in einer von der katholischen Kirche herausgegebenen Zeitung, in dem ihm nahegelegt werde, „still, lautlos, wortlos und handlungslos“ zu sterben. Auch das empört ihn maßlos. Warum sollte er nicht „als Berserker auf irgendeiner Bühne rumtoben und die nicht kranke Bevölkerung damit belasten“?
Doch: Sein Stücktitel „Mea culpa“ ist eine Urformel des christlichen Schuldbekenntnisses. Das pompöse Geschehen ist auf einer Bühne inszeniert, zu der still sitzende Betrachter hinaufschauen. Ist da die Assoziation mit einem barocken Hochamt verfehlt? Auf der Drehbühne gibt es sehr, sehr viel zu sehen, unter anderem eine Schauspielerin in Bischofsmantel, Stola und Mitra sowie einen toten Hasen, byzantinisches Symbol für Christus. Bei all seiner Wut: Christoph Schlingensief spielt mit diesen christlichen Symbolen – und das ohne Blasphemie, meist nicht einmal ironisch.
„Mea culpa“ ist eine Uraufführung. Und Wesensmerkmal eines soeben geschaffenen Kunstwerks ist die Neuheit.
Doch in diesem Stück wimmelt es vor Altem und Klassischem: „Parsifal“ und „Faust“, Johann Sebastian Bach und Richard Wagner, Goethe und Nietzsche. Auch die von Christoph Schlingensief zitierten Marcel Duchamp und Joseph Beuys sind längst Altmeister des 20. Jahrhunderts. Noch mehr: Ein Uraltgenre, dessen Protagonisten seit Jahren grübeln, ob es nicht zu opulent, zu sehr 19. Jahrhundert, zu kompliziert für die heutige Zeit geworden ist, stilisiert Christoph Schlingensief zur ultimativen Kunst der Moderne hoch: die Oper.
Noch ein Widerspruch frappiert: Christoph Schlingensief ist virtuos im Umgang mit Medien. In wenigen Jahren hat er es geschafft, die wichtigen Eigenschaften der Event-Gesellschaft – Voraussetzung für TV-Talk-Shows und Klatschmagazine – auf sich zu vereinen: jung, frech, Promi.
Doch in seinem neuen Bühnenwerk thematisiert er all das, was in der Event-Gesellschaft das unausgesprochene Attribut „igittigitt“ hat: sterbenskrank werden, sich hilflos fühlen, Schuld verarbeiten, sich auf den Tod vorbereiten.
Die nächste Ungewöhnlichkeit für dieses ungewöhnliche Kunstwerk kam am Dienstag: Da teilte das Burgtheater mit, die Nachfrage nach Karten für „Mea culpa“ sei derart überwältigend, dass für Juni 2009 eine zweite Aufführungsserie dieser aufwendigen Produktion vorbereitet werde, zu der Christoph Schlingensief nach Wien kommen werde. Ist das als Zeichen zu verstehen, dass „Mea culpa“ zum Hype wird?