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Ausstellungen 
   
   
  74  Wien: Oktavian Trauttmansdorff: 27,9%  Roger M. Buergel  
   
   
Die goldenen Siebziger erleben mehr als nur ein Revival. Sie sind zu einer Ersatzrealität geworden. Über die Gründe, warum das so ist, spekulieren die institutionskritischen Ausstellungen inzwi-schen selbst. »955,000« lautete
der schlichte Titel einer von Lucy Lippard 1970 in Vancouver kuratierten Ausstellung damals zeitgenössischer Kunst. Dieselbe Ausstellung
in Seattle hieß »557,087«.
Über wieviele EinwohnerInnen Wien verfügt, ließe sich gewiß dem statistischen Jahrbuch entnehmen. »27,9%« – so der Titel von Octavian Trauttmansdorff – bezeichnet den Anteil der FPÖ-WählerInnen. Aber was besagt eine solche Zahl in postpositivistischen Zeiten? Vermag sie zu repräsentieren, was in Wien oder Österreich gerade los ist? Die Ausstellung erteilt uns Anschauungsunterricht. Stapel von Telefonbüchern tragen im vorderen Galerieraum eine gigantische Platte. Obwohl die improvisierten Karyatiden nur 27,9% der Plattenfläche tatsächlich stützen, hält die Konstruktion. Zugleich trägt die Platte die Galerie, deren Hirn (Computer nebst Personal) aus dem Hinterraum nach vorn wandern mußte. Mit dem Hirn wanderte auch der Lagerbestand, der jetzt, neben Einsprengseln von Vernissagenfotos der Ausstellung, dicht auf die Wände gepflastert ist.
Nachdem alles in einem Raum zusammengepfercht wurde, sollte man erwarten, daß es im Hinterzimmer Luft zum Atmen gibt. Erschwert wird der Gang dorthin allerdings durch ein Fragezeichen, das wie eine gigantische Laubsägearbeit eine weiße Platte ziert, durch die man sich durchzuzwängen hat. Der Körperbezug dieses Zeichens erinnert an die früheren Godard-Filme, wo der Normalbürger statt mit einem Baguette mit einem Fragezeichen unterwegs ist. Dieses Hinterzimmer ist dann auch tatsächlich eine Art Kino. Auf einem Fernsehbildschirm flimmern Aufnahmen von einem Gang im Wiener Allgemeinen Krankenhaus (AKH), die mit einer fixierten Videokamera gefilmt wurden. Im Gegensatz zur sogenannten amerikanischen Einstellung (3/4 Körperdarstellung, am Knie abgeschnitten) setzt diese Einstellung nur die vorbeilaufenden Beine unterhalb des Knies ins Bild. Das Interesse der Kamera scheint eher der leeren Sitzbank am Gang zu gelten, die weniger eine Bank zu nennen ist, als eine Gruppe von Plastikschalensitzen: formgewordene Sozialhygiene. Ein Sitz fehlt. Eine gleiche Sitzgruppe, ebenfalls um einen Sitz reduziert, ziert als Ready-made das Hinterzimmer. Den Platz der fehlenden Schale besetzt der Monitor, der uns von einer Position aus anstarrt, die eigentlich dem Publikum bzw. den siechen AkteurInnen im Gang des AKH oder beispielsweise auch den Wartenden in der U-Bahn vorbehalten ist. Nun ist der Monitor keine Kamera - kein plattes Überwachungsszenario harrt unser. Wir brauchen den Monitor, der sich auf der falschen Bank breitmacht, auch nicht um seinen Platz zu beneiden. Insofern öffentlicher Raum eine angewandte Disziplinartechnik ist – das gilt insbesondere bei der Organisation von Wartezeiten (wieviele Revolutionen sind nicht durch Müßiggang ins Rollen gekommen!) –, ist in diesem freigeräumten Hinterzimmer diesseits der Schalensitze alles besser. Man könnte sogar flanieren und sich an den wenigen museal gehängten Bildern ergötzen, würde es sich nicht ausschließlich um Fotos des Bildschirmgeschehens handeln.
Die Institutionskritik der neunziger Jahre dürstet nach gesellschaftlichen Veränderungen, mit denen sie korrespondieren kann. Wie in den siebziger Jahren vorgeführt, verwaltet die Kunst die Bausteine eines gesellschaftlichen Aufbruchs und kristallisiert dessen Dokumente zu Monumenten. Die Veränderungen der neunziger Jahre aber schmecken bitter. »27,9%« lautet der Parameter, nach dem sich ein neu erstandenes, so aggressives wie selbstgerechtes Kleinbürgertum bemessen läßt. Dessen Habitualisierungscodes – Hierarchien und Sichtbarkeiten – sucht Trauttmansdorffs Ausstellung als Kehrseite der künstlerischen Intervention zu fassen zu bekommen. Das ist eine grauenhafte Arbeit an ausschließlich negativen Mythen. Aber sie ist fruchtbar und notwendig. (6. Mai bis 20. Juni)
 
     

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