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17.10.2003 - Kultur&Medien / Ausstellung
Nitsch & Essl: Baumax und Barockbuddhist
Karlheinz Essl hat seinem Freund Hermann Nitsch zum 65. Geburtstag eine Retrospektive aus eigenen Beständen gewidmet. Sie gibt Aufschluss über die Entwicklung eines Künstlers und einer Beziehung. Und zeigt, wie sich die Zeiten ändern.

W
er vom Café im zweiten Stock aus die Ausstellung betritt, hat mit einem Blick alles gesehen: eine Kathedrale. Die hier gezeigten Ergebnisse der 38. Malaktion, die Hermann Nitsch 1996 auf Einladung Karlheinz Essls im Klosterneuburger Schömer-Haus durchgeführt hat, leisten auch im Nachklang das, worum es Nitsch in actu geht: Sakralisierung. Auf dem Weg zwischen den großformatigen Leinwänden hindurch, hin zu der als Hochaltar montierten Riesenleinwand, kommen einem die Einwände in den Sinn, die es gegen Hermann Nitschs Denken und Arbeiten zu erheben gilt. Etwa gegen die für den religiös gebundenen Zeitgenossen doch sehr leichtfüßige Art des Prinzendorfer Schlossherrn, aus den rituellen Wurzeln des Juden-Christentums und dem zyklischen Denken des fernen Ostens einen Weinviertler Barockbuddhismus zu basteln.

Gerade vor dem Hintergrund solcher Einwände eröffnet sich aber die erstaunliche Kraft der Arbeiten. Ein schönes Paradoxon: Ausgerechnet der Mann, gegen den die katholische Kirche den Vorwurf der Blasphemie erhoben hat, besitzt eine Fähigkeit, die der Kirche selbst immer weniger gelingt: Zu zeigen, dass der "Weg nach draußen" auch sinnlich erfahrbar gemacht werden kann.

Dieser innere Widerspruch zwischen dem ganz auf Sublimierung, auf Intellektualisierung, auf das Wort ausgerichteten Zugang zum Religiösen und der mit ekstatischer Energie betriebenen Freilegung der sinnlich-archaischen Grundierungen des religiösen Empfindens - Blut und Tieropfer haben darin immer eine entscheidende Rolle gespielt - hat in der Freundschaft zwischen dem Weinviertler Barockmenschen Hermann Nitsch und dem Kärntner Protestanten und "Baumax"-Unternehmer Karlheinz Essl seine Personalisierung gefunden. Das lange Gespräch zwischen Nitsch und Essl, das im Ausstellungskatalog nachzulesen ist, wird so zum Bestandteil der Schau. - Die im ersten Stock gezeigten Arbeiten erscheinen zunächst in chronologischer Ordnung. Beginnend mit den ersten Schüttbildern aus den späten fünfziger Jahren wird, durch Arbeiten wie die Reliktkollagen aus den frühen 60er Jahren und eine Fotodokumentation über das Wirken Nitschs im Rahmen des Wiener Aktionismus, das Kreisen des Künstlers um die immer selbe Idee von Geburt, Leid, Fest, und Tod gezeigt.

Zugleich wird, gerade anhand der Videodokumentationen, klar, warum sich das Skandalpotenzial dieses Werkes so deutlich verringert hat: Die "Grauslichkeiten" die hier gezeigt werden, können es weder mit den filmischen Gewaltorgien etwa eines Quentin Tarantino ("Pulp Fiction", "Bill Kill") noch mit den Bildern, die wir rund um den BSE-Skandal in den Nachrichtensendungen gesehen haben, wirklich aufnehmen. Hier zeigt sich auch, wie schal und flach das ewige Gerede vom "Provokationskünstler" Hermann Nitsch geworden ist, wie sehr das Beschwören des Skandals immer die inhaltliche Auseinandersetzung mit dem Werk ersetzt hat.

Durch die Chronologie hindurch wird auch hier dem dramaturgischen Grundprinzip von Nitschs Arbeit Rechnung getragen: Alles läuft auf das zentrale Ereignis im 65jährigen Künstlerleben Hermann Nitschs zu. Am Ende - oder, wenn man die Ausstellung durch den "Haupteingang" betritt: am Anfang - findet sich die Installation des Materials der Kapelle des Sechs-Tage-Spiels von 1998, der ersten und einzigen Realisation des Gesamtkunstwerkes, um das es Hermann Nitsch seit 1957 zu tun ist.

Das Verbindungsstück zwischen Kathedrale und Chronologie bildet in der Rotunde des Museums eine beeindruckende Fotodokumentation der wichtigsten Aktionen. Dort ist auch auch die Klangquelle jener Musikinstallation platziert, die der Komponist Karlheinz Essl, der Sohn des Sammlers, aus dem musikalischen Material Hermann Nitschs montiert hat. Diese Musik erfüllt als wogender Orgelklang den gesamten Ausstellungsraum.

Am Eingang zur Rotunde, in der die Vergangenheit aufgerollt wird, stößt der Besucher unvermittelt auf die Gegenwart: Das Schüttbild mit Malhemd aus dem Auferstehungszyklus des Jahres 2002. Das strahlende Gelb dieses Osterbildes vermittelt eine Ahnung von der Möglichkeit des kraftvollen Einbruchs von Erlösung in die ewige Wiederkehr von Geburt, Leid und Tod. Dieses Werk bezeichnet den Kern des Schaffens von Hermann Nitsch: ein bildmächtiges Zeugnis der Überwindung der metaphysischen Übel durch das Fest.

Biografisches:

1938 wird Hermann Nitsch in Wien geboren. Ende der 50er entwirft er das Konzept des "Orgien Mysterien Theaters", mit dem er an die Theorie des Gesamtkunstwerks anknüpfen will. Erste Malaktionen im Technischen Museum und in Otto Mühls Atelier. 1971 kauft er Schloss Prinzendorf (NÖ), wo jährlich Aktionen stattfinden (1998: Sechs-Tage-Spiel). 1960 bis 1966 folgen seiner Aktions- und Ausstellungstätigkeit Prozesse und Gefängnisstrafen. 1988 bis 2003: Professur für interdisziplinäre Kunst in Frankfurt am Main.

Nitsch-Retrospektive Sammlung Essl: Bis 11.1.2004, Di bis So 10-19h, Mi 10-21h, Mo geschlossen. Eintritt 6 Euro.
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