DIE ZEIT


22/2003

Kunst

Ich schieße auf dich, du schießt auf mich

Bilder vom Rand der zivilisierten Welt: Die Balkan-Schau „Blut und Honig“ in Klosterneuburg

Von Christof Siemes

So sieht die Zukunft aus: Der Freiheitsstatue steht das Wasser bis zum Hals, der Rest von New York ist abgesoffen. Moskau dagegen ist eine Wüste, Gerippe verbleichen am Fuß verwitterter Monumente in der Sonne. In Alices Wunderland wird ein neues Spiel gespielt: „Ich schieße auf dich, du schießt auf mich, wer überlebt, schießt auf andere.“ Der Verband der Zahnärzte ist zu einer Gang von Folterknechten degeneriert, die sich mit roten Gummihandschuhen im Schritt kratzen und auf das nächste Opfer warten. Für frustrierte Ehepaare steht ein hölzerner Onanierapparat bereit. Sieht so die Zukunft aus?

Ja. Zumindest in der Ausstellung Blut & Honig. Zukunft ist am Balkan heißt ihr Untertitel, unter dem der Kurator Harald Szeemann, seit Jahrzehnten einer der prominenten Pfadfinder im Dschungel der zeitgenössischen Kunst, 73 Künstler aus elf Ländern präsentiert. Sie sollen eine Weltgegend als Kunstlandschaft etablieren, von der man auch nach einem Jahrzehnt voller Krieg und täglicher Medienpräsenz kein klares Bild hat. Wie auch, schließlich ist nicht mal eindeutig, was das Wort Balkan eigentlich heißt. „Gebirge“ lautet eine Übersetzung, doch ist es auch als Kompositum aus bal und kan zu lesen – Blut und Honig. Dass dabei die höllische Ideologie von Blut und Boden ebenso anklingt wie die paradiesische Vorstellung vom Land, in dem Milch und Honig fließen, ist einer der wohlkalkulierten Effekte der Schau in der Sammlung Essl.

Vor drei Jahren hat sich der Unternehmer Karlheinz Essl in Klosterneuburg bei Wien ein imposantes Museum für seine Sammlung zeitgenössischer Kunst bauen lassen. Eine Baumarktkette hat ihn reich gemacht, und da Südosteuropa sein „wichtigstes Expansionsgebiet“ ist, importiert er nun mit Blut & Honig frische Ware für den westlichen Kunstbetrieb. Noch eine Schau also, die sich aufmacht in eine vermeintliche Terra incognita. Solche Kunstexpeditionen haben Konjunktur, egal, ob sie nach Arabien oder Osteuropa führen; schon im August wird man in Kassel weitere Künstler aus den „Schluchten des Balkan“ vorführen.

Im alten Europa sind längst alle Tabus gebrochen, alle möglichen Konzepte erdacht, dekonstruiert und recycelt worden, selbst das ironische Durchwinken der nächsten Sau auf der Hauptstraße des globalen Kunstdorfs ist nur noch eine müde Geste. Da versprechen die edlen Wilden von hinter den sieben Bergen eine Unmittelbarkeit, einen Existenzialismus, der dem dekadenten Westler ganz fremd geworden ist. „Intensität“ sei das zentrale Kriterium seiner Auswahl gewesen, erzählt Szeemann. Wochenlang wurden ihm zwischen Sarajewo, Prishtina und Tirana im Halbstundentakt Künstler vorgeführt, wie eigenständige Kunstwerke werden Szeemanns Notizen aus diesen Castings im Katalog präsentiert. Der eigentliche Star der Show ist der Kurator, im Lichte seiner Prominenz finden die ach so authentisch gebliebenen Provinzler den Weg in die Kunstmetropolen.

Künstler ist, wer Englisch spricht

Zum Glück wird dieser Kunstkolonialismus von den Entdeckten selbst ironisch unterlaufen. In dem guten Jahrzehnt seit den politischen Umbrüchen in Osteuropa haben sie in einem Schnelldurchgang nicht nur alle Techniken vom Video bis zur manipulativen Digitalfotografie erlernt, sondern auch alle avantgardistischen Strategien der Subversion. „An artist who cannot speak english is no artist“, hat Mladen Stilinoviƒ in ungelenken Großbuchstaben auf ein rosafarbenes Transparent geschrieben. Und die slowenische Gruppe Irwin führt alle Ordnungsbemühungen der Ausstellung ad absurdum. In ihrem Projekt East Art Map versucht sie, eine Art virtuelle Landkarte der gesamten Ostkunst zu erstellen. Ihre Diashow mit vier Projektoren zeigt so viele Werke, dass jede Auswahl, auch die Szeemanns, als zufällig erscheint. Auf einer Art Sternkarte schweben die einzelnen Künstler als eiförmige Himmelskörper herum, rote Linien zeichnen ein unentwirrbares Geflecht von Beziehungen und Abhängigkeiten, in deren Zentrum der Russe Ilja Kabakow steht. Auffälligstes Merkmal dieser Galaxie: Sie steht in keinerlei Verbindung mehr zum westlichen Sonnensystem.

Das Selbstverständnis der Künstler ist einer von fünf nicht klar getrennten Themenkomplexen der Ausstellung. Zu Beginn wird mit einem Regal voller bronzener Heldenporträts noch einmal des Künstlers als Homo socialisticus gedacht, doch schon im nächsten Raum beginnt die Aufarbeitung der Geschichte – mit einer Weißwaschaktion. Für ihre Performance Women at Work – Washing Up bestickte Maja Bajeviƒ aus Sarajewo große Laken mit optimistischen Tito-Sprüchen. Zusammen mit zwei Flüchtlingsfrauen wusch sie die Propaganda so lange, bis sie fadenscheinig wurde. Die Fetzen hängen nun gerahmt an der Wand, Relikte einer Geschichte, deren Ursprünge vielleicht zurückreichen bis zur Ermordung von Erzherzog Franz Ferdinand in Sarajewo 1914. Der Leichenwagen, mit dem der Thronfolger zu seinem Grab befördert wurde, sollte eigentlich den Auftakt der Ausstellung bilden. Aus konservatorischen Gründen steht er jetzt in einem abgedunkelten, klimatisierten Raum in ihrer Mitte, ein schwarzes Loch, das seit fast einem Jahrhundert alle Visionen für eine friedliche Zukunft der Region verschluckt.

Die Geschichte dieser unruhigen letzten Ruhe ist auch eine von Emigration, Exil und Vertreibung. In einer der anrührendsten Arbeiten sieht man die kleine Tochter des albanischen Künstlers Adrian Paci, der heute in Mailand lebt. Wie eine der Putten in Raffaels Sixtinischer Madonna lümmelt sich das Mädchen am unteren Bildrand einer Videoprojektion und singt gedankenverloren ein albanisches Volkslied. Von der gegenüberliegenden Wand schauen ihm, ebenfalls in einer Videoprojektion, die Verwandten in Albanien zu. Mit weit aufgerissenen Augen versuchen sie das Gespenst des Vergessens zu bannen, helfen dem Kind im italienischen Exil über die Barrieren von Adria und Kamera hinweg beim Memorieren des Textes, auf dass es die eigene Kultur im fremden Land ja nicht vergessen möge.

Damit ragt Apparizione, Erscheinung, auch schon hinüber in den vierten Themenkomplex, der sich mit den leidigen Fragen nach persönlicher und nationaler Identität in diesem Kuddelmuddel der Ethnien und Staaten beschäftigt. Hier werden Hochzeitstänze und Totenklagen aus dem albanischen Hinterland vorgeführt, der Künstler wird zum ironischen Anthropologen, der archaische Rituale als Readymades ins Kunstmuseum schleust. Hier hat aber auch der – neben Szeemann – zweite Star von Blut & Honig einen seiner zahllosen Auftritte: der Moldawier Mark Verlan.

Er hat nicht nur den Untergang von New York und Moskau imaginiert und Relikte des sozialistischen Alltags wie Kohlköpfe, Panzer und Pelzmützen in putzige Gebrauchskeramik verwandelt, sondern entwirft auf zahlreichen Landkarten und einem eiförmigen Globus von Moldawien eine neue Weltordnung. Das winzige Moldawien ist ihr schöner neuer Mittelpunkt, drum herum ergeben sich belebend absurde Nachbarschaften. Deutschland hat plötzlich eine Grenze mit dem Land Shakira; vielleicht soll uns der Geist der kolumbianischen Sängerin lockerer machen.

Nichts für empfindsame Besucher

Das Gelächter über diese Art Geschichtsschreibung bleibt einem freilich im Halse stecken, wenn man sich dem fünften Themenbereich stellt, den Kriegen und der allgegenwärtigen Gewalt auf dem Balkan. Hier sind einige der härtesten Videos der jüngeren Kunstgeschichte zu sehen. Vor den Arbeiten des Kosovaren Sokol Beqiri wird explizit gewarnt: „Für empfindsame Besucher nicht zu empfehlen.“ In seinen kurzen Filmen über das Töten zeigt er den Menschen als Killermaschine – und wie wir diese Nachtseite unseres Daseins hinter harmlosen Bildern verbergen.

Ist das die neue Intensität, die den Kunstbetrieb aus seiner Routine schreckt? Die Ausstellung beginnt mit einem Video Marina Abramoviƒs, in dem sich die Belgrader Künstlerin, längst ein internationaler Star, mit einer Rasierklinge einen Stern um den Bauchnabel ritzt; langsam rinnt das Blut in ihre Scham. Das war 1975, viel größer konnten shock and awe in der Kunst auch nicht mehr werden. Blut & Honig kommt nicht umhin, die Balkan-Klischees zu bestätigen, die eigentlich zerstört werden sollen, jene Bilder von einem unkontrollierbarem Raum knapp jenseits der Zivilisation. Doch so verlockend und abstoßend, idyllisch und brutal, komisch und verzweifelt hat man ihn bislang noch nicht gesehen.