Kunst Ich schieße auf dich, du schießt auf mich Bilder vom Rand der zivilisierten Welt: Die Balkan-Schau „Blut
und Honig“ in Klosterneuburg So sieht die Zukunft aus: Der Freiheitsstatue steht das Wasser
bis zum Hals, der Rest von New York ist abgesoffen. Moskau dagegen ist eine
Wüste, Gerippe verbleichen am Fuß verwitterter Monumente in der Sonne. In Alices
Wunderland wird ein neues Spiel gespielt: „Ich schieße auf dich, du schießt auf
mich, wer überlebt, schießt auf andere.“ Der Verband der Zahnärzte ist zu einer
Gang von Folterknechten degeneriert, die sich mit roten Gummihandschuhen im
Schritt kratzen und auf das nächste Opfer warten. Für frustrierte Ehepaare steht
ein hölzerner Onanierapparat bereit. Sieht so die Zukunft aus? Ja. Zumindest in der Ausstellung Blut & Honig. Zukunft ist am
Balkan heißt ihr Untertitel, unter dem der Kurator Harald Szeemann, seit
Jahrzehnten einer der prominenten Pfadfinder im Dschungel der zeitgenössischen
Kunst, 73 Künstler aus elf Ländern präsentiert. Sie sollen eine Weltgegend als
Kunstlandschaft etablieren, von der man auch nach einem Jahrzehnt voller Krieg
und täglicher Medienpräsenz kein klares Bild hat. Wie auch, schließlich ist
nicht mal eindeutig, was das Wort Balkan eigentlich heißt. „Gebirge“ lautet eine
Übersetzung, doch ist es auch als Kompositum aus bal und kan
zu lesen – Blut und Honig. Dass dabei die höllische Ideologie von Blut und Boden
ebenso anklingt wie die paradiesische Vorstellung vom Land, in dem Milch und
Honig fließen, ist einer der wohlkalkulierten Effekte der Schau in der Sammlung
Essl. Vor drei Jahren hat sich der Unternehmer Karlheinz Essl in Klosterneuburg bei
Wien ein imposantes Museum für seine Sammlung zeitgenössischer Kunst bauen
lassen. Eine Baumarktkette hat ihn reich gemacht, und da Südosteuropa sein
„wichtigstes Expansionsgebiet“ ist, importiert er nun mit Blut &
Honig frische Ware für den westlichen Kunstbetrieb. Noch eine Schau also,
die sich aufmacht in eine vermeintliche Terra incognita. Solche
Kunstexpeditionen haben Konjunktur, egal, ob sie nach Arabien oder Osteuropa
führen; schon im August wird man in Kassel weitere Künstler aus den „Schluchten
des Balkan“ vorführen. Im alten Europa sind längst alle Tabus gebrochen, alle möglichen Konzepte
erdacht, dekonstruiert und recycelt worden, selbst das ironische Durchwinken der
nächsten Sau auf der Hauptstraße des globalen Kunstdorfs ist nur noch eine müde
Geste. Da versprechen die edlen Wilden von hinter den sieben Bergen eine
Unmittelbarkeit, einen Existenzialismus, der dem dekadenten Westler ganz fremd
geworden ist. „Intensität“ sei das zentrale Kriterium seiner Auswahl gewesen,
erzählt Szeemann. Wochenlang wurden ihm zwischen Sarajewo, Prishtina und Tirana
im Halbstundentakt Künstler vorgeführt, wie eigenständige Kunstwerke werden
Szeemanns Notizen aus diesen Castings im Katalog präsentiert. Der eigentliche
Star der Show ist der Kurator, im Lichte seiner Prominenz finden die ach so
authentisch gebliebenen Provinzler den Weg in die Kunstmetropolen. Künstler ist, wer Englisch spricht Zum Glück wird dieser Kunstkolonialismus von den Entdeckten selbst ironisch
unterlaufen. In dem guten Jahrzehnt seit den politischen Umbrüchen in Osteuropa
haben sie in einem Schnelldurchgang nicht nur alle Techniken vom Video bis zur
manipulativen Digitalfotografie erlernt, sondern auch alle avantgardistischen
Strategien der Subversion. „An artist who cannot speak english is no
artist“, hat Mladen Stilinoviƒ in ungelenken Großbuchstaben auf ein rosafarbenes
Transparent geschrieben. Und die slowenische Gruppe Irwin führt alle
Ordnungsbemühungen der Ausstellung ad absurdum. In ihrem Projekt East
Art Map versucht sie, eine Art virtuelle Landkarte der gesamten Ostkunst zu
erstellen. Ihre Diashow mit vier Projektoren zeigt so viele Werke, dass jede
Auswahl, auch die Szeemanns, als zufällig erscheint. Auf einer Art Sternkarte
schweben die einzelnen Künstler als eiförmige Himmelskörper herum, rote Linien
zeichnen ein unentwirrbares Geflecht von Beziehungen und Abhängigkeiten, in
deren Zentrum der Russe Ilja Kabakow steht. Auffälligstes Merkmal dieser
Galaxie: Sie steht in keinerlei Verbindung mehr zum westlichen Sonnensystem. Das Selbstverständnis der Künstler ist einer von fünf nicht klar getrennten
Themenkomplexen der Ausstellung. Zu Beginn wird mit einem Regal voller bronzener
Heldenporträts noch einmal des Künstlers als Homo socialisticus gedacht, doch
schon im nächsten Raum beginnt die Aufarbeitung der Geschichte – mit einer
Weißwaschaktion. Für ihre Performance Women at Work – Washing Up
bestickte Maja Bajeviƒ aus Sarajewo große Laken mit optimistischen
Tito-Sprüchen. Zusammen mit zwei Flüchtlingsfrauen wusch sie die Propaganda so
lange, bis sie fadenscheinig wurde. Die Fetzen hängen nun gerahmt an der Wand,
Relikte einer Geschichte, deren Ursprünge vielleicht zurückreichen bis zur
Ermordung von Erzherzog Franz Ferdinand in Sarajewo 1914. Der Leichenwagen, mit
dem der Thronfolger zu seinem Grab befördert wurde, sollte eigentlich den
Auftakt der Ausstellung bilden. Aus konservatorischen Gründen steht er jetzt in
einem abgedunkelten, klimatisierten Raum in ihrer Mitte, ein schwarzes Loch, das
seit fast einem Jahrhundert alle Visionen für eine friedliche Zukunft der Region
verschluckt. Die Geschichte dieser unruhigen letzten Ruhe ist auch eine von Emigration,
Exil und Vertreibung. In einer der anrührendsten Arbeiten sieht man die kleine
Tochter des albanischen Künstlers Adrian Paci, der heute in Mailand lebt. Wie
eine der Putten in Raffaels Sixtinischer Madonna lümmelt sich das
Mädchen am unteren Bildrand einer Videoprojektion und singt gedankenverloren ein
albanisches Volkslied. Von der gegenüberliegenden Wand schauen ihm, ebenfalls in
einer Videoprojektion, die Verwandten in Albanien zu. Mit weit aufgerissenen
Augen versuchen sie das Gespenst des Vergessens zu bannen, helfen dem Kind im
italienischen Exil über die Barrieren von Adria und Kamera hinweg beim
Memorieren des Textes, auf dass es die eigene Kultur im fremden Land ja nicht
vergessen möge. Damit ragt Apparizione, Erscheinung, auch schon hinüber in den
vierten Themenkomplex, der sich mit den leidigen Fragen nach persönlicher und
nationaler Identität in diesem Kuddelmuddel der Ethnien und Staaten beschäftigt.
Hier werden Hochzeitstänze und Totenklagen aus dem albanischen Hinterland
vorgeführt, der Künstler wird zum ironischen Anthropologen, der archaische
Rituale als Readymades ins Kunstmuseum schleust. Hier hat aber auch der – neben
Szeemann – zweite Star von Blut & Honig einen seiner zahllosen
Auftritte: der Moldawier Mark Verlan. Er hat nicht nur den Untergang von New York und Moskau imaginiert und Relikte
des sozialistischen Alltags wie Kohlköpfe, Panzer und Pelzmützen in putzige
Gebrauchskeramik verwandelt, sondern entwirft auf zahlreichen Landkarten und
einem eiförmigen Globus von Moldawien eine neue Weltordnung. Das
winzige Moldawien ist ihr schöner neuer Mittelpunkt, drum herum ergeben sich
belebend absurde Nachbarschaften. Deutschland hat plötzlich eine Grenze mit dem
Land Shakira; vielleicht soll uns der Geist der kolumbianischen Sängerin
lockerer machen. Nichts für empfindsame Besucher Das Gelächter über diese Art Geschichtsschreibung bleibt einem freilich im
Halse stecken, wenn man sich dem fünften Themenbereich stellt, den Kriegen und
der allgegenwärtigen Gewalt auf dem Balkan. Hier sind einige der härtesten
Videos der jüngeren Kunstgeschichte zu sehen. Vor den Arbeiten des Kosovaren
Sokol Beqiri wird explizit gewarnt: „Für empfindsame Besucher nicht zu
empfehlen.“ In seinen kurzen Filmen über das Töten zeigt er den Menschen als
Killermaschine – und wie wir diese Nachtseite unseres Daseins hinter harmlosen
Bildern verbergen. Ist das die neue Intensität, die den Kunstbetrieb aus seiner Routine
schreckt? Die Ausstellung beginnt mit einem Video Marina Abramoviƒs, in dem sich
die Belgrader Künstlerin, längst ein internationaler Star, mit einer
Rasierklinge einen Stern um den Bauchnabel ritzt; langsam rinnt das Blut in ihre
Scham. Das war 1975, viel größer konnten shock and awe in der Kunst
auch nicht mehr werden. Blut & Honig kommt nicht umhin, die
Balkan-Klischees zu bestätigen, die eigentlich zerstört werden sollen, jene
Bilder von einem unkontrollierbarem Raum knapp jenseits der Zivilisation. Doch
so verlockend und abstoßend, idyllisch und brutal, komisch und verzweifelt hat
man ihn bislang noch nicht gesehen.