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derStandard.at | Kultur | Bildende Kunst 
01. Dezember 2006
21:56 MEZ
Foto: STANDARD/ Matthias Cremer
Eine Allegorie der Welt: Die Zahl Pi - hier die ersten 478 von unendlich vielen Dezimalstellen am Knick der neuen "Westpassage" vom Karlsplatz zur Secession.

Photoblog von Matthias Cremer:
"Die Entdeckung der Westpassage in Wien"

Foto: APA/Jörg Auzinger

Passage mit Knick und Pi
Der unterirdische Passantentunnel von Karlsplatz zur Secession wurde fertig gestellt: Künstlerisch gestaltet vom Kanadier Ken Lum

Wien – Der Mensch ist mitunter ein sprunghaftes Wesen. Und offensichtlich besonders, wenn es ums verliebt sein geht: Derzeit sind das 387 806 – nein 387 855, nein 387 796 ... - Menschen in Wien. So gibt es zumindest eine binnen Sekundenbruchteilen umspringende LED-Anzeige an. Diese ist Teil der Medieninstallation des Kanadiers Ken Lum für die neue Westpassage am sich in vielen kleinen Teilschritten offenbarenden "Kunstplatz Karlsplatz" – dem zudem größten U-Bahnhof der Stadt.

Flinke Passage

Seit Freitag können die Passanten ganz flink und vollkommen werbefrei die Strecke zwischen Wissenschaften und Kunst, zwischen Technischer Universität am Resselpark und Secession am Naschmarkt durchmessen und sich dabei vor 14 weiteren "Factoids", so genannten Quasi-Tatsachen spiegeln: Darunter etwa die aktuelle Anzahl der in Wien verspeisten Schnitzel, die womöglich mit der des verliebt seins korrelieren könnte, scherzt Kulturstadtrat Andreas Mailath-Pokorny bei der Projektpräsentation am Freitag.

Hintergründiger stimmen da schon die leuchtenden Dioden, die die Tage bis zur Wiederbewohnbarkeit von Tschernobyl (150.335) herunterzählen oder die Opfer von Landminen allein in diesem Jahr mit bisher 16077 beziffern. Oder der Vorübereilende sinniert am Nachhauseweg darüber, ob er zu den 536 178 Menschen in Österreich zählt, die mit ihrem Job unzufrieden sind. Aber sowohl hinter den Zahlen für relevante Tatsachen als auch hinter jenen, die die alltäglichen Trivialitäten messen, steht wissenschaftlich ermitteltes statistisches Datenmaterial.

Das Pi am Knick

Und schließlich taucht am Knick der 130 Meter langen Passage die titelgebende Zahl "Pi" (Kreisumfang geteilt durch Durchmesser) auf, die in ihrer Unendlichkeit auch Symbol für die stets verändernde Erscheinung der Welt ist: Zu den 478 ersten, in Glas geätzten Ziffern werden dann die die jeweils zehn letzten, vom Computer jüngst berechneten Dezimalstellen eingespielt.

Die Passage, die ursprünglich schon im Juni fertig gestellt sein sollte, kostete die Wiener Linien im Rahmen des U-Bahn-Ausbaus 3,1 Millionen Euro (ein 60 Meter langer Seitenarm zur Secession aus den 60er-Jahren musste reaktiviert, auf- und Abgänge zugefügt werden). Weitere 300.000 Euro flossen aus dem Fonds für "Kunst im öffentlichen Raum" in seine künstlerische Ausgestaltung.

In einem geladenen Wettbewerb hatte sich 2005 Ken Lum mit seinem Entwurf "Pi" gegenüber acht Mitbewerbern aus dem In- und Ausland, darunter seine Landsfrau Angela Bulloch, der Brite Liam Gillick oder die Österreicher Dorit Margreiter, Martin Walde oder Heimo Zobernig durchgesetzt. Bemerkenswert erscheint da vor allem die Tatsache, dass sich Lum über die engen Vorgaben der Ausschreibung, lediglich die Vitrinenelemente, die gewöhnlich für die City Lights genutzt werden, zu gestalten, erfolgreich hinwegsetzte: Er hat die Passage und ihr Durchschreiten selbst zum Thema gemacht und die Architektur des gesamten Raumes mit aktueller Medientechnologie verknüpft.

Spiegelnde Wechselrahmen

Lum, der seit den 1980er Jahren vorwiegend mit der Kombination von Schrift und Fotografie arbeitet und Techniken und Ästhetik der Werbung benutzt, hat in den vergangenen Jahren auch mit dem Porträt im Spiegel (documenta 11) experimentiert. Die ästhetisch sehr zurückhaltende Wiener Installation mit geätzter Schrift auf Spiegelglas, das wie der Wechselrahmen für die wechselnden Betrachter funktioniert, ist formal gesehen also eine Weiterentwicklung dieser künstlerischen Arbeiten.

Ken Lum beschreibt, dass sich bei "Pi" für ihn die Aufgabe stellte, den Einzelnen zur Selbstreflexion anzuregen. Das sollte allerdings nicht in einem isolierten Raum geschehen, sondern in einer Umgebung, die das Selbst in den Kontext einer größeren Welt verwickelt. Ein weiteres zu bewältigendes Problem bei "Pi" sieht der Künstler darin, an einem Ort des Durchgangs nachhaltig Aufmerksamkeit zu erzeugen, ohne sich dem Passanten aufzudrängen. (Anne Katrin Feßler, Langfassung eines Berichts erschienen in DER STANDARD, Printausgabe, 2./3.12.2006)


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