DiePresse.com | Kultur | Kunst | Artikel DruckenArtikel drucken


Rodins Sprache der Hände

30.09.2010 | 18:33 | SABINE B.VOGEL (Die Presse)

Unteres Belvedere. Die Ausstellung „Rodin und Wien“ zeigt den Bildhauer auch als Vorbild für Klimt, Schiele und Kokoschka. Immer wieder stellte Rodin, der bereits zu Lebzeiten ein Star war, in Wien aus.

Reiterstandbilder, Engel und Herrscherbüsten bevölkern seit vielen Jahrhunderten den öffentlichen Raum. Sie stehen auf hohem Sockel und verlangen die eine, spezielle Ansicht: von vorne. Ende des 19.Jahrhunderts gelangte erstmals eine Skulptur in den Außenraum, die diese Prinzipien ignoriert: 1885 erhielt der französische Bildhauer Auguste Rodin (1840–1917) den Auftrag, sechs Bürgern für ihre selbstlose Rettung der Stadt Calais im Hundertjährigen Krieg 1347 ein Denkmal zu setzen. Mit diesem revolutionierte er die Idee des Denkmals: Die Skulptur steht erstens auf einer kleinen Fußplatte, um den Passanten auf Augenhöhe zu begegnen, sie muss zweitens umschritten werden, damit man alle Figuren sehen kann, und zeigt vor allem drittens keine Heroen, sondern sechs dem Opfertod entgegengehende Männer, deren Hände die Zweifel und inneren Konflikte dieses Moments ausdrücken.

Mit zwei weiteren seiner Hauptwerke waren die „Bürger von Calais“ als Gipsgruppe 1901 in der Secession zu sehen. Immer wieder stellte Rodin, der bereits zu Lebzeiten ein Star war, in Wien aus.

 

Acht Arbeiten aus dem Haus

Seine Auftritte blieben nicht ohne Einfluss auf die österreichische Kunst – und genau dieser Aspekt steht jetzt im Zentrum der kunsthistorisch höchst interessanten Rodin-Ausstellung in der Orangerie des Belvederes. Sie kombiniert Leihgaben und die acht Arbeiten aus der hauseigenen Sammlung mit Werken österreichischer Künstler und zeigt überraschende Übereinstimmungen.

In all seinen Skulpturen suchte Rodin ein neues Menschenbild, er wollte vor allem Gefühle sichtbar machen. In den vielen Ton- und Gipsentwürfen für seine Büsten schuf er immer wieder andere Varianten eines Gesichts. Arbeiteten seine Zeitgenossen hauptsächlich mit glatt polierten Oberflächen, formte Rodin seine Köpfe oft ohne Torso, platzierte sie auf merkwürdig unvollendet erscheinende Partien. Diese Technik des „Non-finito“ wurde im 15.Jahrhundert als hohe künstlerische Leistung in Zeichnungen praktiziert, aber erst Rodin wandte sie als ausdruckstragendes Element für Skulpturen an. Besonders typisch sind aber diese zerklüfteten, expressiven Momente, mit denen er keine abbildhafte Ähnlichkeit, sondern die „Offenbarung eines Bewusstsein“ anstrebte.

Der für ihn so typische Wechsel zwischen weich modellierten und groben, fast aggressiven Partien ist eines der Stilmittel, die Rodins Wiener Kollegen, wie Anton Hanak oder Gustinus Ambrosi, bald von ihm übernahmen. Unübersehbaren Einfluss – das ist die große Überraschung dieser Ausstellung – hatte Rodin auf die Maler Klimt, Kokoschka und Schiele. „Der Körper ist ein Modell, geformt von Leidenschaften“: Dieses Motto von Rodin übersetzten sie in eine Malerei, die den Körper zum „Austragungsfeld von inneren Befindlichkeiten“ machte, wie es Kurator Stephan Koja beschreibt. Sie übernahmen sogar Posen von Rodins Skulpturen identisch. Auf Schiele vor allem machten die für Rodin so wichtigen Hände als zentrale Ausdrucksträger einen überwältigenden Eindruck, sie gelten heute fast als Schieles Markenzeichen.

 

Verbindung zu Fritz Wotruba

Überzeugend inszeniert die Ausstellung auch die Verbindung zu Fritz Wotruba: In seinem „Schreitenden“ verdichtet Rodin das Motiv der Bewegung nur mehr im menschlichen Rumpf, verzichtet dafür auf den Kopf und die Arme. In einer Blickachse dazu steht Wotrubas „Stehender Torso“ von 1953/54, der die Reduktion auf das Wesentliche in die Abstraktion führte. Im Unterschied zu Rodin legte Wotruba seine Skulptur von Anfang an als geometrische Grundformen an, denn der viel später Geborene suchte die Revolution nicht im Individuellen, sondern im Allgemeingültigen. In der Belvedere-Ausstellung können wir jetzt die Nähe in den beiden radikalen Wegen der Moderne sehen.
Bis 6.Febr., tägl. 10–18, Mi 10–21.


© DiePresse.com