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Matthew Barney: Öl, Blut, Tee - Systematische Kunst

16.03.2008 | 18:13 | MARKUS KEUSCHNIGG (Die Presse)

Kunsthalle Wien. „Drawing Restraint“: US-Künstler Matthew Barney zeigt Skulpturen, Zeichnungen, Filme: eine hermetische, doch faszinierende Welt.

Ein Satyrkind versucht, seinen Schwanz zu fangen. Das Bild kommt vom Monitor, der Monitor hängt nebst zwei anderen von der Decke: Das Schirmdreieck strahlt Matthew Barneys Aktion „Drawing Restraint 7“ in die Ecken der aufgeräumten Kunsthalle. Wie ordentlich das alles ist! – denkt man sich, wo doch die Arbeiten des US-Künstlers wuchern.

„Drawing Restraint“ – das ist kein Malen nach Zahlen, sondern Zeichnen unter Einschränkung. Mit einem Elastikband schnürt er sich an den Boden: Es gilt, den Widerstand zu spüren, wenn man sich zur Zeichenoberfläche ziehen muss. Barney war früher Football-Spieler: ein athletischer Artist. In einer Aktion kritzelt er ein Selbstporträt an die Raumdecke, indem er von einem Trampolin abspringt, in einer anderen erklettert er die Wand einer Museumshalle, um hoch oben seine Zeichnung zu hinterlassen.


Vom Mund über den Magen zum Anus

Barneys Welt ist hermetisch: Das weiß er wohl selbst. Auf seiner Webseite hat er einen Drei-Stufen-Pfad beschrieben, auf dem man sich ihr nähern kann. Er beginnt beim Mund als „aggressives, wahlloses Aufzehren“, gefolgt vom Magen, der das Aufgenommene „diszipliniert“ und ihm „Gestalt verleiht“, er endet beim Anus: der Produktion. Barney will damit einen Kreislauf beschrieben haben, in der Kunsthalle hängt das Ganzheitliche auszugsweise an den Wänden, liegt unberührbar in Vitrinen. Bleistift- und Tuschezeichnungen (teils angereichert durch Fischblut und Erbrochenes), angefertigt eben unter „Drawing Restraint“: Sie zeigen Frauentorsi mit Walfischflossen und skelettierte Kapitäne.

Naturwissenschaftliche Systematik wird zur systematischen Kunst: Die diagrammatische Darstellung „Crude Destillation“ legt einen Wal über einen Fabriksschlot und will anzeigen, wie sich die Verwertung des Tieres durch die Erdölindustrie verändert hat. Bis zur industriellen Destillation des Erdöls war Tran der wichtigste Brennstoff. Der Lebenszirkel als Zirkeltraining (auch für den Betrachter): „Drawing Restraint“ ist penibel durchnummeriert, von eins bis 15.

Ordnung und Chaos, Ausdehnung und Kontraktion, Tod und Wiedergeburt – das sind Orientierungspunkte für den Beschauer von Barneys Filmen, Skulpturen und Zeichnungen, um sich zurechtzufinden im Referenzgewitter zwischen mythologischen Gestalten und Beuschelkino (wie Brian Yuznas Society). Die größte Plastik der Ausstellung heißt „Holographic Entry Point“ und ist zweigeteilt. Die rechte Hälfte zeigt in Erdfarben einen unter großem Gewicht eingebrochenen Grund, die linke Hälfte ist wie ein neuer Guss davon, wieder (oder noch) intakt und strahlend weiß. Es ist quasi eine Kinoskulptur und wirkt darin, als wäre sie aus dem abendfüllenden Film im Zyklus, Drawing Restraint 9, herausgekratzt worden (was sie auch ist, irgendwie).

Barney selbst ist im Film mit seiner Ehefrau Björk zu sehen, wie sie an Bord des japanischen Walfangschiffes „Nisshin Maru“ gehen. Mit ihnen kommt eine Ladung flüssiger Vaseline an, die auf dem Oberdeck in eine Form gegossen wird. Das synthetische Material übt auf den Künstler große Faszination aus: Im Verlauf der Reise wird das Erdöldestillat auf die sich verändernden Temperaturen reagieren, während die Reisenden im Bauch des Gefährts eine Metamorphose durchlaufen.


Es fehlt nur die Vaseline

Barneys Bilder sind hochglänzend und schick, eine modefotografische Avantgarde. Drawing Restraint 9 klaubt sich – ganz nach dem Strickmuster des Künstlers – Versatzstücke der japanischen und der westlichen Kultur zusammen. Eine lang ausgespielte, fabulös ausstaffierte Teezeremonie steht im Herzen des Films: Björk und Barney in monströsen, urzeitlichen Kostümen (gewaltige Schneckenhäuser auf den Rücken) saufen grünen Schleim aus einer Muschel. Es ist die rituelle Initiation der Formvollendung: Während über Deck die fest gewordene Vaseline von ihrer Gussform befreit wird, schneiden sich die Liebenden unter Deck das Fleisch vom Leib, um zum Walfischpaar zu werden.

Schlüssel gibt es keinen zu Barneys Werk. Man kann sich nur einfühlen in seine archaische Kunst. Das funktioniert im Kino problemlos, wo man davon umwabert wird, weniger gut in der Ausstellung, wo man Schnitzel davon beschauen darf und doch immer nur daneben steht. In Kombination wertet der eine Erfahrungsraum den anderen auf. Dennoch: Man vermisst die Vaseline-Skulpturen, die in der Londoner Serpentine Gallery ausgestellt wurden. Sie sind quintessenzieller Barney: formlose Formschönheit – ein synthetisch hergestelltes Naturprodukt. In der Kunsthalle hat man für das Schmiermittel leider keinen Platz gefunden.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 17.03.2008)


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