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23.07.2003 - Kultur News
"Wochenklausur": Zehn Jahre soziale Ingenieurskunst
Ideenschmied und Motivationslokomotive: Wolfgangs Zinggl agiert unter dem Schutzmantel des Kunstbetriebs für Bedürftige.
VON HANS HAIDER


Wolfgang Zinggl und seine "Wochenklausur": Viele helfen mit in Graz

Wolfgang Zinggl feiert in aller Stil le ein Jubiläum. Vor zehn Jahren irritierte er das erste Mal den etablierten Ausstellungsbetrieb mit einer sozialen Aktion unter Schirmdach der Kunst-Aura: in der Wiener Secession. Das von ihm gegründete Künstlerkollektiv "Wochenklausur" wollte damals von Joseph Maria Olbrichs goldkuppelgekröntem Baujuwel aus die Lebensbedingungen der Wiener Obdachlosen verbessern.

Caritas und Stadt Wien halfen mit. Geblieben der Bus "Louise", eine mobile, der nichtsesshaften Klientel nachfahrende Arztpraxis, in dem noch heute über 700 Patienten pro Monat ohne Krankenschein und Rechnung betreut werden.

Nun sitzt der Absolvent der Wiener Hochschule für angewandte Kunst und der Wiener Universität für die Grünen im ORF-Stiftungsrat. Er leitet überdies das "Depot", ein kleines Kunstveranstaltungszentrum, das 1994 mit Bundeskunstgeld im Messepalast eingerichtet wurde - und trotz lauter Proteste ausziehen musste, während das Museumsquartier fertig wurde.

Wolfgang Zinggl begründet seinen Schwenk zur sozialen Nutzen stiftenden Aktion recht simpel: als logische Konsequenz einer fortwährenden Auflösung des "Werkcharakters". Er hütet sich, seine inzwischen weltweit beachteten Wochenklausuren gegen die pure Selbstbeschäftigung sonstiger Aktionskunst auszuspielen.

Wo die reine Zweckfreiheit oder allenfalls die Irritation des Durchschnittsbürgers kunstsinnstiftend zelebriert werden, mag man Zinggl selten gerne. Dennoch schrieb die Donau-Universität Krems im Jahr 2000 einen zweisemestrigen Lehrgang für Interventionskunst aus. Zinggl warb um Studenten mit einer Verheißung: "So wie der traditionelle Künstler Materialien gestaltet, so gestalten wir ganz konkrete Verhältnisse in der Wirklichkeit des Zusammenlebens der Menschen". Ein Kremser Lehrziel: die Gestaltung des Pfarrplatzes unter Bürgerbeteiligung.

Solches Social Engineering überschneidet sich mit Handlungsfeldern der Politik und Administration. Immer stehen am Anfang eines Projekts soziale Feldforschungen, Problemanalysen, Studien, betont Zinggl im Gespräch mit der "Presse".

Was dachte sich die "Wochenklausur" für das Jubiläumsjahr aus? Nichts Außergewöhnliches oder gar Feierliches. Wolfgang Zinggl ist nicht in Feierlaune: Eine junge Mitarbeiterin und Lebensfreundin ist letzten Herbst plötzlich verstorben, im Winter darauf tat er einen furchtbaren Sturz beim Eislaufen auf dem Neusiedler See. Längst aber sei er wieder fit genug für die diesjährige "Intervention". Die will "individuelle Beschäftigung für geistig behinderte Menschen" schaffen.

So viel Ausgang, Abwechslung, Lustbarkeit wartete noch nie im Pflegezentrum der Barmherzigen Brüder in Kainbach bei Graz auf die 600 Patienten, darunter viele betagte und auch Kinder, wie seit Mai 2003 und bis Mai 2004. Zinggl und fünf Künstlerfreunde gewannen über fünfzig Firmen, Vereine, Institutionen zum Mitmachen. Beispiele? Der Grazer Verein für Aquarien und Terrarien organisierte ein Picknick am Teich, die Motorflugunion bat in den Hangar, die GAK führte die Spielerkabinen vor. Die Schokoladenmanufaktur Zotter lässt am Rührwerk zuschauen und für das spezielle Tagesprodukt ein Etikett entwerfen. Die Ballonfliegerfirma Flaggl lädt zum Aufstieg in den Himmel - so weit das Fesselseil reichen wird. Im Botanischen Garten der Grazer Universität winkt Patienten beim Eintopfen von Pflanzen (vielleicht) ein Erfolgserlebnis.

Die erste Wochenklausur 1993 in der Secession führte rasch zu Nachfragen, Einladungen. 1994 wurde vom Zürcher Alternativkulturzentrum Shedhalle aus Hilfe für drogenabhänge Frauen vorbereitet, die sich das nötige Geld am Strich verdienen. Sechs Jahre lang fanden sie Beratung, Betreuung in einer "Pension Zora" - bis im Oktober 2000 die Stadt Zürich den Zuschuss strich.

1995 hinterließ die Wochenklausur im Städtchen Civitella nördlich von Rom im Lokal des kommunistischen Seniorenvereins ein allgemein zugängliches Alten-Kommunikationszentrum samt Boccia-Bahn. Im "steirischen herbst" 1996 sicherte man sieben arbeitslosen Ausländern eine Aufenthaltsgenehmigung, indem man sie als Künstlern deklarierte (die gesetzliche Privilegien genießen) und unter breiter Mithilfe der Bürger und Wirtschaft "soziale Plastiken" bauen ließ.

Besonders viel Freunde machte Zinggl 1996 die Arbeit mit zwei Schulklassen im Gymnasium Wien-Stubenbastei: Dort wurde die Ausgestaltung der Klassenzimmer gegen die graue Frontalunterrichts-Norm durchgesetzt. Firmen spendeten ergonomisch perfekte Drehstühle - "alles Designerstücke, lauter Direktorensessel". Die Wand in der 7a war erst nach vielen Palavern und einem Wettbewerb fertig: Die Schüler votierten für Comics - doch nach der Matura federte das Schulsystem in die Grundstellung zurück. Ebenfalls 1996 konnte in Salzburg mit dem Kunstverein und dem Evangelischen Flüchtlingsdienst als Partnern im dortigen Polizeigefangenenhaus eine Koordinationsstelle zur sozialen Betreuung eingerichtet werden.

In Ottensheim in Oberösterreich wurden 1998 Aktivistengruppen zurückgelassen, die die Ortsbelebung in die Hand nahmen. Beim Europäischen Kulturmonat 1998 in Linz animierte die Wochenklausur Designer zur Verwendung von Industrie-Abfällen ("Upcycling").

1999 durfte Zinggls Gruppe die höchste Kunstweihe erfahren: Das Bundeskanzleramt schickte sie auf die Biennale nach Venedig. Mittels einer Lotterie (Firmen spendeten die Warenpreise) wurde in den Eröffnungstagen Geld gesammelt für Sprachschulen für Flüchtlinge in Mazedonien und im Kosovo.

Solches Kunst-Renommee trug weitere Einladungen ein: nach Japan, Nürnberg. Derzeit gibt es Nachfragen aus Helsingborg, Chicago und Glasgow - wo im Stadtteil Castlemilk frisches und friedliches urbanes Leben sprießen soll. In Stockholm wurde 2002 vor den Parlamentswahlen meinungsgeforscht.

Doch Zinggl spürt, dass er vom heimatlichen Boden nicht zu hoch abheben darf. 2001 zog die "Wochenklausur", aufgerüstet mit fünf Wissenschaftlern, auf einem Unimog und mit Zelten durch steirische und niederösterreichische Dörfer, visitierte jeweils vier Tage einen Ort mit fremden Augen und besprach mit den Einheimischen spontane Ideen für die Raumplanung und den Tourismus. Heuer im Juni sperrte Zinggl in der Wiener Schleifmühlgasse die "Werkstatt Gabarage" auf - eine Kooperation mit dem Anton-Proksch-Institut, wo ehedem Drogenabhängige mit Designern Upcycling-Produkte entwickeln und fertigstellen.

Die Frage nach seinem eigentlichen Beruf bringt den 48jährigen in Verlegenheit. "Ich versuche, bestimmte Vorstellungen zu verwirklichen." Zuallererst nennt er sich "Künstler". Freilich müsse man, fügt er hinzu, den geläufigen Kunstbegriff ausweiten.



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