Wolfgang Zinggl und seine "Wochenklausur": Viele helfen mit in
Graz
Wolfgang Zinggl feiert in aller Stil le ein Jubiläum. Vor zehn Jahren
irritierte er das erste Mal den etablierten Ausstellungsbetrieb mit einer
sozialen Aktion unter Schirmdach der Kunst-Aura: in der Wiener Secession.
Das von ihm gegründete Künstlerkollektiv "Wochenklausur" wollte damals von
Joseph Maria Olbrichs goldkuppelgekröntem Baujuwel aus die
Lebensbedingungen der Wiener Obdachlosen verbessern.
Caritas und Stadt Wien halfen mit. Geblieben der Bus
"Louise", eine mobile, der nichtsesshaften Klientel nachfahrende
Arztpraxis, in dem noch heute über 700 Patienten pro Monat ohne
Krankenschein und Rechnung betreut werden.
Nun sitzt der Absolvent der Wiener Hochschule für
angewandte Kunst und der Wiener Universität für die Grünen im
ORF-Stiftungsrat. Er leitet überdies das "Depot", ein kleines
Kunstveranstaltungszentrum, das 1994 mit Bundeskunstgeld im Messepalast
eingerichtet wurde - und trotz lauter Proteste ausziehen musste, während
das Museumsquartier fertig wurde.
Wolfgang Zinggl begründet seinen Schwenk zur sozialen
Nutzen stiftenden Aktion recht simpel: als logische Konsequenz einer
fortwährenden Auflösung des "Werkcharakters". Er hütet sich, seine
inzwischen weltweit beachteten Wochenklausuren gegen die pure
Selbstbeschäftigung sonstiger Aktionskunst auszuspielen.
Wo die reine Zweckfreiheit oder allenfalls die Irritation
des Durchschnittsbürgers kunstsinnstiftend zelebriert werden, mag man
Zinggl selten gerne. Dennoch schrieb die Donau-Universität Krems im Jahr
2000 einen zweisemestrigen Lehrgang für Interventionskunst aus. Zinggl
warb um Studenten mit einer Verheißung: "So wie der traditionelle Künstler
Materialien gestaltet, so gestalten wir ganz konkrete Verhältnisse in der
Wirklichkeit des Zusammenlebens der Menschen". Ein Kremser Lehrziel: die
Gestaltung des Pfarrplatzes unter Bürgerbeteiligung.
Solches Social Engineering überschneidet sich mit
Handlungsfeldern der Politik und Administration. Immer stehen am Anfang
eines Projekts soziale Feldforschungen, Problemanalysen, Studien, betont
Zinggl im Gespräch mit der "Presse".
Was dachte sich die "Wochenklausur" für das Jubiläumsjahr
aus? Nichts Außergewöhnliches oder gar Feierliches. Wolfgang Zinggl ist
nicht in Feierlaune: Eine junge Mitarbeiterin und Lebensfreundin ist
letzten Herbst plötzlich verstorben, im Winter darauf tat er einen
furchtbaren Sturz beim Eislaufen auf dem Neusiedler See. Längst aber sei
er wieder fit genug für die diesjährige "Intervention". Die will
"individuelle Beschäftigung für geistig behinderte Menschen" schaffen.
So viel Ausgang, Abwechslung, Lustbarkeit wartete noch
nie im Pflegezentrum der Barmherzigen Brüder in Kainbach bei Graz auf die
600 Patienten, darunter viele betagte und auch Kinder, wie seit Mai 2003
und bis Mai 2004. Zinggl und fünf Künstlerfreunde gewannen über fünfzig
Firmen, Vereine, Institutionen zum Mitmachen. Beispiele? Der Grazer Verein
für Aquarien und Terrarien organisierte ein Picknick am Teich, die
Motorflugunion bat in den Hangar, die GAK führte die Spielerkabinen vor.
Die Schokoladenmanufaktur Zotter lässt am Rührwerk zuschauen und für das
spezielle Tagesprodukt ein Etikett entwerfen. Die Ballonfliegerfirma
Flaggl lädt zum Aufstieg in den Himmel - so weit das Fesselseil reichen
wird. Im Botanischen Garten der Grazer Universität winkt Patienten beim
Eintopfen von Pflanzen (vielleicht) ein Erfolgserlebnis.
Die erste Wochenklausur 1993 in der Secession führte
rasch zu Nachfragen, Einladungen. 1994 wurde vom Zürcher
Alternativkulturzentrum Shedhalle aus Hilfe für drogenabhänge Frauen
vorbereitet, die sich das nötige Geld am Strich verdienen. Sechs Jahre
lang fanden sie Beratung, Betreuung in einer "Pension Zora" - bis im
Oktober 2000 die Stadt Zürich den Zuschuss strich.
1995 hinterließ die Wochenklausur im Städtchen Civitella
nördlich von Rom im Lokal des kommunistischen Seniorenvereins ein
allgemein zugängliches Alten-Kommunikationszentrum samt Boccia-Bahn. Im
"steirischen herbst" 1996 sicherte man sieben arbeitslosen Ausländern eine
Aufenthaltsgenehmigung, indem man sie als Künstlern deklarierte (die
gesetzliche Privilegien genießen) und unter breiter Mithilfe der Bürger
und Wirtschaft "soziale Plastiken" bauen ließ.
Besonders viel Freunde machte Zinggl 1996 die Arbeit mit
zwei Schulklassen im Gymnasium Wien-Stubenbastei: Dort wurde die
Ausgestaltung der Klassenzimmer gegen die graue Frontalunterrichts-Norm
durchgesetzt. Firmen spendeten ergonomisch perfekte Drehstühle - "alles
Designerstücke, lauter Direktorensessel". Die Wand in der 7a war erst nach
vielen Palavern und einem Wettbewerb fertig: Die Schüler votierten für
Comics - doch nach der Matura federte das Schulsystem in die Grundstellung
zurück. Ebenfalls 1996 konnte in Salzburg mit dem Kunstverein und dem
Evangelischen Flüchtlingsdienst als Partnern im dortigen
Polizeigefangenenhaus eine Koordinationsstelle zur sozialen Betreuung
eingerichtet werden.
In Ottensheim in Oberösterreich wurden 1998
Aktivistengruppen zurückgelassen, die die Ortsbelebung in die Hand nahmen.
Beim Europäischen Kulturmonat 1998 in Linz animierte die Wochenklausur
Designer zur Verwendung von Industrie-Abfällen ("Upcycling").
1999 durfte Zinggls Gruppe die höchste Kunstweihe
erfahren: Das Bundeskanzleramt schickte sie auf die Biennale nach Venedig.
Mittels einer Lotterie (Firmen spendeten die Warenpreise) wurde in den
Eröffnungstagen Geld gesammelt für Sprachschulen für Flüchtlinge in
Mazedonien und im Kosovo.
Solches Kunst-Renommee trug weitere Einladungen ein: nach
Japan, Nürnberg. Derzeit gibt es Nachfragen aus Helsingborg, Chicago und
Glasgow - wo im Stadtteil Castlemilk frisches und friedliches urbanes
Leben sprießen soll. In Stockholm wurde 2002 vor den Parlamentswahlen
meinungsgeforscht.
Doch Zinggl spürt, dass er vom heimatlichen Boden nicht
zu hoch abheben darf. 2001 zog die "Wochenklausur", aufgerüstet mit fünf
Wissenschaftlern, auf einem Unimog und mit Zelten durch steirische und
niederösterreichische Dörfer, visitierte jeweils vier Tage einen Ort mit
fremden Augen und besprach mit den Einheimischen spontane Ideen für die
Raumplanung und den Tourismus. Heuer im Juni sperrte Zinggl in der Wiener
Schleifmühlgasse die "Werkstatt Gabarage" auf - eine Kooperation mit dem
Anton-Proksch-Institut, wo ehedem Drogenabhängige mit Designern
Upcycling-Produkte entwickeln und fertigstellen.
Die Frage nach seinem eigentlichen Beruf bringt den
48jährigen in Verlegenheit. "Ich versuche, bestimmte Vorstellungen zu
verwirklichen." Zuallererst nennt er sich "Künstler". Freilich müsse man,
fügt er hinzu, den geläufigen Kunstbegriff ausweiten.
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Die Presse | Wien