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Artikel aus dem EXTRA Lexikon

Euphorie und Depression

Die Künstlerin in ihrer Wohnung in Nürnberg, umgeben von ihren Bildern. Foto: Weidinger

Die Künstlerin in ihrer Wohnung in Nürnberg, umgeben von ihren Bildern. Foto: Weidinger

Von Dagmar Weidinger

Die deutsche Malerin Karin Birner ist eine jener interessanten "Außenseiter-Künstlerinnen", deren Werk noch zu entdecken ist.

Wenn Kunstinteressierte nach Nürnberg reisen, gehen sie höchstwahrscheinlich ins Germanische Nationalmuseum oder besichtigen eine der vielen bekannten Kirchen. Kaum jemand weiß, dass die Stadt in den letzten zehn Jahren von einer der interessantesten "Außenseiter-Künstlerinnen" bewohnt wird, die der deutschsprachige Raum derzeit zu bieten hat. Im obersten Stock des grauen Mietshauses in der Flaschenhofstraße 21 gleich hinter dem Bahnhof wohnt eine, für die Kunst und Leben untrennbar zusammen gehören. Ein Schritt über die Schwelle genügt, um zu wissen, dass Kunst hier mehr ist als der tägliche Broterwerb. Bilder stapeln sich in Mappen und Kisten am Flur, in der Küche, im Schlafzimmer. Wer hierher Zeit mitgebracht hat, um vorzudringen bis in die untersten Schichten, wird reich belohnt. Je weiter man sich zu den Anfängen vortastet, desto wilder und ungehobelter wird das, was man erblickt.

Die Künstlerin Karin Birner wurde 1963 in Nürnberg geboren. Gleich nach der Matura zog es sie nach Erlangen, wo sie Geschichte, Germanistik und Theaterwissenschaften inskribierte. Bald schon holten die junge Frau jedoch vergangene Traumatisierungen ein, sodass sie mit Anfang 20 erstmals beim Psychiater vorstellig wurde. Gleichzeitig spürte Birner, dass Pinsel und Farbe ihr die Möglichkeit boten, all das auszudrücken, wofür Worte nicht reichen.

Sie begann eine Art "Doppelleben" zu führen: untertags ging sie ihren Studien nach, nachts malte sie. Krisen- und Schaffensphasen wechselten einander oftmals abrupt ab – bis heute. Viele Ausbildungen wurden begonnen und abgebrochen. Die gleichzeitig entstehenden Kunstwerke sind Zeugnisse eines spannungsgeladenen und wechselvollen Lebens, eines Lebens an der Grenze zwischen Euphorie und Depression. Seit 1992 signiert Birner ihre Bilder mit KOMAMOK, eine Kombination der Wörter Koma und Amok – zwei Zustände, zwischen denen sie sich gefühlsmäßig bewegt.

Nahe am Zerfall

Birners Thema ist von Beginn an die menschliche Gestalt. Anfang der 90er Jahre malt sie vor allem kreatürlich wirkende Personen, die wie schutzlose Embryos in einer nackten Umgebung liegen. Der Betrachter und die Betrachterin spüren schnell den existenziellen Charakter des Dargestellten; hier geht es nicht um kleine Krisen oder Schwankungen, hier geht es ums Ganze. Birners Personen wirken in ihrer Integrität bedroht – innerlich wie äußerlich immer nahe am Zerfall.

Wo der äußere Feind nicht direkt gezeigt wird, taucht er als Schatten oder bedrohlich wirkende große Spinne oder Schlange auf. Gleichsam überfordert rollen sich Birners zumeist androgyne Kreaturen zusammen, verschließen die Augen, scheinen sich innerlich zu entfernen von der sie umgebenden Welt. "Menschen in Birners Arbeiten sind zumeist stark stilisiert. Das Individuum wird hier zu einer Kreatur, deren Physiognomie eine tiefe Emotion wie Einsamkeit oder Verzweiflung versinnbildlicht", schreibt die Kunsthistorikerin Claudia Gorr anlässlich Birners erster Einzelausstellung in Nürnbergs "Turm der Sinne" Ende 2008.

Der inhaltlich glaubhaft vermittelten Distanz und Abgeschlossenheit ihrer "Kreaturen" steht eine nach außen drängende, expressive Farbigkeit gegenüber. Birner reduziert die Palette dabei gerne auf ungemischte Primärfarben, die sie großflächig und mit dynamischem Pinselstrich einsetzt. Gegensätze sowie farbliche Polarisierung bilden hier wie andernorts eines der Hauptmerkmale von Birners Malerei.

Ihre frühen Werke sind schonungslos im Aufzeigen seelischer Wunden und machen auch vor Themen wie Missbrauch, Gewalt und Sucht nicht Halt. Dazu kommen aktuelle Erlebnisse im psychiatrischen Kontext. Kompromisslos zeigt Birner die Einsamkeit und Verzweiflung der psychisch Kranken auf, der die Mauern der Psychiatrie manchmal wie Gefängnismauern erscheinen mögen. So entstehen Bilder von zusammen gekrümmten Menschen auf Krankenhausfluren oder vor Injektionsnadeln verfolgte, flüchtende nackte Frauengestalten.

Wer nach all dem von Birners Arbeit die Stilisierung des eigenen Leidens erwartet, liegt völlig falsch. Birner geht auch die schwersten Themen mit einem "Augenzwinkern" an, und nimmt den Bildern durch humoristische Elemente ihre Schwere. So malt sie in dem Bild "Durchblick" das Gesicht einer Frau, die durch zwei leere Tablettenpackungen auf die Betrachter blickt.

Wo Selbstbilder entstehen, sind diese in gleichem Maße Zeugnis einer belebten Innenwelt. "Selbst mit gordischem Knoten im Kopf" oder "Tretmühle im Kopf" lauten die Titel solcher Bilder. Immer wieder findet Birner treffsicher Metaphern für Gefühle wie innere Unruhe oder Anspannung. Häufig sind die Köpfe dann in der Mitte durchgeschnitten und geben den Blick frei auf chaotische Gehirnwindungen, verschlungene Linien, Spiralen, Zahnräder. Birners kräftige Pinselführung vermittelt auch hier Tempo und Dynamik.

Farbe und Gefühl

Ruhe- und Rastlosigkeit im ständigen Für und Wider der Gegensätze drückt auch die Farbigkeit der Selbstbildnisse aus. So kommt es häufig zur Darstellung zweier verschiedenfarbiger, stark kontrastierender Gesichtshälften, scharf getrennt durch einen langen weißen Nasenrücken. Die Verbindung zur "Frau mit grüner Nase" von Henri Matisse liegt nahe. Auch in anderen Bildern lassen sich mehr oder weniger auffallende Parallelen zwischen Birners Werk und dem frühen Expressionismus ziehen. Ähnlich wie der expressionistischen Stilrichtung Anfang des 20. Jahrhunderts geht es Birner darum, Farbe für die Vermittlung gewisser Gefühlszustände einzusetzen.

In jüngerer Zeit zeigt sich außerdem der Einfluss einer tiefenpsychologisch orientierten Therapie in Birners Werken. "Der langsame Weg zum Selbst" findet so thematisch Eingang in ihre Bilder. Die solcherart beeinflussten Werke wirken formal ruhiger und geordneter. Durch die nach wie vor aufs Höchste gesteigerte Farbigkeit bleibt dennoch intensivste Emotionalität spürbar. Selbstbildnisse sind nun nicht mehr ausschließlich zweigeteilt – vielmehr taucht zunehmend das innere Kind auf, das der Betrachterin hinter zwei aufgeklappten Gesichtshälften entgegenblickt.

Auch Birners Beziehungsbilder haben einen Wandel erlebt. Die zu Beginn häufig kühl und distanziert wirkenden Darstellungen von Mutter und Kind sind Bildern gewichen, die echte Zuneigung und Nähe ausstrahlen. Innigkeit und Hingabe tauchen in den zuletzt auch formal zarteren Gestaltungen der Nürnbergerin auf.

Therapeutische Inhalte machen Birners Bilder nicht automatisch zu "Therapiebildern". Sie mögen zum Entstehen neuer Inhalte beitragen, stilistisch bleibt die Eigenständigkeit der Künstlerin stets erhalten. Permanente Selbsterfahrung und Selbstdarstellung sowie das Einfangen der eigenen psychophysischen Zustände stehen von Anfang an im Mittelpunkt von Birners Schaffen – ein Element, das sie in eine Reihe stellt mit großen Künstlerinnen des 20. und 21. Jahrhunderts wie Maria Lassnig oder Louise Bourgeois.

Immer wieder ist es jedoch genau die Assoziation mit dem (psycho)-therapeutischen Milieu, die Birners Künstlerinnendasein erschwert. Die 46-Jährige hat ihre ersten "künstlerischen Schritte" nicht wie andere Zeitgenossinnen in lokalen Galerien gemacht, sondern in Psychiatrien und therapeutischen Einrichtungen, wo man ihre Werke nach wie vor gerne aufgrund ihrer großen Ausdruckskraft zeigt. "PsychiARTrie", "Andere Zeitgenossen", "Traum und Trauma" und zuletzt "AndersARTig" sind nur einige der Titel ihrer Ausstellungen.

Der Sprung von dort in die "anerkannte Kunstwelt" ist kein leichter, auch wenn Birners Talent längst für sich spricht. Selbst dort, wo man sie am ehesten einordnen würde – im Bereich der Outsider Art –, ist dies nicht unproblematisch. Der ungebremste seelische Ausfluss, der sich auf jedem Blatt aufs Neue manifestiert, drückt Birners Kunst den Stempel auf. Bilder entstehen im Kopf und wollen sofort auf die Leinwand. Zwischenfilter, Konzeptionen oder andere Bremsmechanismen haben im Schaffensprozess dieser Künstlerin keinen Platz.

Leben an der Grenze

Und doch steht Birner nicht ganz außerhalb des "anerkannten Kunstbetriebes". Zu erwähnen wäre einerseits eine kurze Ausbildungsphase an der Kunsthochschule Ottersberg, andererseits ihr generell vorhandenes Wissen über kunsthistorische Traditionen und Stile. "Ungeachtet der impulsiven Farbigkeit und ‚rohen’ Erscheinung ihrer Bilder arbeitet Birner anders als viele ‚Außenseiterkünstler’ durchaus intellektuell", schreibt Claudia Gorr.

Karin Birners Malerei ist wie vieles in ihrem Leben an einer Grenze angesiedelt. Diesen Aspekt thematisiert auch die derzeitige Ausstellung ihrer Werke in Schloss Hartheim: "tales of a borderline" heißt die Schau, die Birners Bilder gemeinsam mit den Arbeiten drei weiterer "Außenseiterinnen" im Kunstkontext präsentieren soll.

Die Ausstellungsmacherinnen haben es sich zum Ziel gesetzt, die ambivalente Position ihrer Künstlerinnen am Kunstmarkt zu thematisieren. "Es wird höchste Zeit, sich wieder ernsthaft die Frage zu stellen, was Art Brut eigentlich ist", sagt die Projektkoordinatorin der "KulturFormenHartheim", Kristiane Petersmann. Birners Werke böten die Möglichkeit, über eine neue Definition der Art Brut bzw. Outsider Art nachzudenken. "Die Welt der Outsider Art ist dynamisch und verändert sich in gleichem Maße wie sich die Gesellschaft verändert. Obwohl Dubuffet und seine Anhänger bis heute postulieren, dass Art Brut gänzlich unberührt von kulturellen Einflüssen entsteht, entspricht es seit jeher mehr der Realität, dass sich beide Welten berühren und ebenso beeinflussen. So wie sich die Gesellschaft verändert, tun es die Grenzen der Outsider Art." Deshalb ist es noch eine offene Frage, welchen Namen Karin Birners Kunst in Zukunft tragen wird.

Karin Birners Werke sind derzeit in einer Gruppenausstellung in Schloss Hartheim (OÖ) zu sehen: "tales of a borderline". KulturFormenHartheim, Schloss Hartheim, Schlossstraße 1, 4072 Alkoven. Öffnungszeiten: Mo, Di, Do 9-14 Uhr oder nach persönlicher Vereinbarung: Tel.: 0699 12 57 66 85. e-mail: k.petersmann@institut-hartheim.at

Die Ausstellung ist noch bis 31. Jänner 2010 zu sehen.

Dagmar Weidinger, geboren 1980, Kunsthistorikerin, Lektorin am Institut für Kunstgeschichte der Universität Wien und freie Journalistin.



Printausgabe vom Samstag, 02. Jänner 2010
Update: Montag, 04. Jänner 2010 15:47:00

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