Schießen oder schauen – Das letzte Land
Hans Schabus leitet Expeditionen. Exemplarisch reist
er mit seinen selbst gebauten Vehikeln für uns durch imaginäre
Welten. Dabei sind seine Fahrten nicht rasant, eher das Gegenteil.
2003 grub er sich zur Wiener Secession durch; letztes Jahr
verlängerte er den Arlbergtunnel bis zum Kunsthaus Bregenz. Heuer
vertritt Hans Schabus Österreich auf der Biennale di Venezia und
verwandelt den Pavillon in eine Art Trojanisches Pferd. Ein
Porträt von Vitus H. Weh.
Manche Erfahrungen macht man selbst, bei anderen ist man froh,
sie delegieren zu können. Zum Beispiel von der Erde zum Mond zu
fliegen, 20.000 Meilen unter den Meeren zu verweilen, eine Reise zum
Mittelpunkt der Erde zu unternehmen oder möglichst schnell einmal um
die Welt zu kommen. Im 19. Jahrhundert las man über derlei Dinge in
den Romanen von Jules Verne und überließ ihre Ausführung Gestalten
wie Kapitän Nemo, Robur dem Sieger, Phileas Fogg oder dem
Präsidenten des Gun Club, Impey Barbicane. Jules Verne, dessen 100.
Todestag gerade zu feiern war, kartografierte in seiner Schreiblust
die gesamten Höhen und Tiefen der damals bekannten Welt. Eine Reise
um die Erde in 65 Romanen gleichsam. Dass es neben dem von ihm
durchmessenen physischen Raum auch noch einen psychischen gibt, war
für Jules Verne noch kein Thema. Dafür umso mehr für Hans Schabus.
Er ist eine Art Nach-Freud’scher Expeditionsleiter, ähnlich kurios
fabulierend, ähnlich atmosphärisch dicht wie Jules Verne, doch
Schabus’ Raumfahrten gelten nicht exotischen Außen-, sondern den
nächstliegenden Innenwelten. Statt eines linearen Romans gibt es
geloopte Filme, es werden aufwändigst verschiedene Vehikel – Boote,
Autos, Eisenbahnen - dafür gebaut, Objektgefährten für ein Leben
unterwegs. Schabus offeriert keine Reise in die
Ferne, sondern in äußerlich stillstehende Räume, in
sedimentgesättigte Erinnerungskomplexe, aber um voyages
extraordinaires geht es auch ihm. Start- und Endpunkt
seiner außerordentlichen Reisen war bislang vor allem sein Wiener
Atelier. Das Künstleratelier gilt gerne als Ort der lichten
Inspiration, des beschwingten Genies, des Gedankenflugs. Bei Hans
Schabus wendet es sich in einen Gärkeller der Fluchtfantasien,
zermürbend rotierender Gedanken, unheimlicher Selbstbeobachtungen
zweiter und dritter Ordnung. Für sein Video „Passagier“ (2000)
installierte er knapp unter der Decke seines Ateliers eine
Modellbahntrasse, die sämtliche Raumzonen seiner Werkstatt - vom
Maschinenraum über die Küche bis zur Toilette - durchläuft. Für das
Video wurde eine Kamera auf die Eisenbahn montiert. Der Kamerablick
folgt, nach hinten auf die Gleise gerichtet, ihren Runden durch
Wände und Stauraum hindurch und an Fenstern und Regalen vorbei,
während die parallel im Atelier stattfindenden Handlungen des
Künstlers nur am Rand aus der Vogelperspektive und über den Ton
nachzuvollziehen sind. Ähnlich kreisend um das Thema des
hermetischen Selbst ist die Arbeit „Schacht von Babel“ von 2003. In
seinem Erdgeschoß-Atelier griff Schabus täglich drei bis vier
Stunden zum Spaten und grub sich durch den Boden immer tiefer. Das
dauerte, filmisch begleitet, zwei, drei Monate lang. Der Aushub
füllte bald den Arbeitsraum. Bei fünf Meter Tiefe musste er
aufhören. Vor lauter Feuchtigkeit schwitzte und blutete das Loch wie
ein Kamin. Sich unterirdisch durchzuwühlen bis zum Ausstellungsraum
der Wiener Secession, sich und sein Ateliervolumen gleichsam
unterirdisch zu verschieben, blieb schließlich der Filmmontage
vorbehalten. Die Ausstellung in der Secession hieß dann „Astronaut
(komme gleich)“: Der Eingang war vermauert, man konnte sich dem
prominenten Hauptraum nur vom Keller her, über provisorisch
gezimmerte Treppen und Wanddurchbrüche, nähern. Dort fand sich ein
kulissenartiger White Cube, dessen blendend weiße Leere sowohl das
heute klassische Präsentationsformat von Kunst thematisierte wie
auch den White-out-Effekt, den Verlust an körperlicher und
psychischer Orientierung, den Polarforscher oder Atlantiküberquerer
in Extremsituationen erleben. Gleichzeitig wurden die Besucher durch
ihr plötzliches Auftauchen in diesem Setting an den letzten Raum in
Stanley Kubricks „2001: A Space Odyssey“ erinnert. Auch das ein
legendärer Albtraum des stummen Sich-selbst-begegnen- und
-beobachten-Müssens. Der Kosmos Kino ist im Werk
von Hans Schabus allgegenwärtig: Ähnlich langwierig sind seine
Recherchen und Vorbereitungen, ähnlich akribisch die Projektskizzen
und Modelle. Bis ein Projekt fertig ist, vergeht schnell ein
Jahr. Für sein Video „Western“, mit dem Schabus auf der Manifesta 4
in Frankfurt 2002 durch seine erzählerische Direktheit und
soghaft-melancholische Wirkung für Furore sorgte, baute er z. B.
zuerst einmal ein Segelboot der Optimist-Klasse und gab ihm den
Namen „Forlorn“ (englisch und kärntnerisch für „aussichtslos,
verloren“). Das entsprechende Video beginnt mit der Großaufnahme der
Nadel eines Schallplattenspielers, die auf eine Platte aufgesetzt
wird; dieses Bild blendet über zum Schallloch einer Zither. Mit der
einsetzenden Zithermelodie aus Carol Reeds Film „Der dritte Mann“
zoomt sich der Blick durch verschiedene Abflüsse und endet im
Kanalsystem. Der Künstler taucht rudernd aus dem Dunkel auf; die
Kamera begleitet ihn bei seiner Reise durch den Kanal. Nach der
Überquerung einer Brücke baut der Künstler das klappbar gemachte
Boot wieder zusammen und segelt mit ihm durch den unterirdischen
Wienfluss. Das sich entfernende Boot verliert sich wieder im
Schallloch der Zither und der Überblendung zur Schallplatte. Der
Filmloop beginnt von vorn. Gezeigt wurde der Film in einer Black
Box, die man durch ein rundes Loch betreten musste. Offen blieb, ob
dieser Raum nun gleichsam das Innere der Zither ist, ein Teil des
gezeigten Kanalsystems oder überhaupt der After eines Körpers, in
den die Besucher wie untersuchende Endoskope kurzfristig eingelassen
werden. Indiskret fühlte man sich so oder so. Und natürlich ist es
einerseits ein Spiel mit dem Paradox, seinen Optimisten verzweifelt
und seine Referenz an den berühmtesten Ost-Verbrecherfilm „Western“
zu nennen. Andererseits steht gerade das Genre des Western wie kein
anderes für die Vergeblichkeit des Aufbruchs respektive für das
Nichtankommen, und das ist auch das Gefühl, das die scheinbar
unendliche Reise von Hans Schabus durch die Kanäle, das Dunkel und
den Abfall evoziert. Nun also der österreichische Pavillon.
Seinem Arbeitsansatz getreu hat sich Hans Schabus zunächst tief in
die Recherche gestürzt. Was ist das für ein Ort, wie komme ich hin?
Welche Koinzidenzien, Assoziationszüge, psychisch-physische
Erfahrungen sind damit verbunden? Und der Ort fängt nicht erst bei
der Tür des Pavillons an. Für Schabus gehört der Weg von Wien dazu,
durch halb Österreich, über die Alpen, durch das einst habsburgische
Kanaltal, vorbei an der kristallinen Festungsstadt Palma Nova,
hinein in die Tourismusstadt Venedig, dort in die ummauerten
Giardini und dann speziell auf diese merkwürdige Insel Sant’Elena.
Sie wurde erst im ausgehenden 19. Jahrhundert aufgeschüttet. Das
neue Land war Exerzierplatz der italienischen Armee. In den 1920er
Jahren wurde unter Benito Mussolini darauf eine Arbeitersiedlung
errichtet und ein kleiner Teil an die 1895 gegründete Biennale di
Venezia abgetreten. 1935 wurde auf dem hintersten Teil dieses
Grundstückes (Schabus: „am Arsch der Giardini“) der österreichische
Pavillon errichtet. Im Übrigen ist die
Kunstbiennale ein Zombie der Universalausstellungen des 19.
Jahrhunderts, ein überkommener Kampfplatz der Nationen.
Bereits die Platzierung der Pavillons im Garten war ein
Stellungskrieg. Dabei war die Pavillonisierung eigentlich sogar eine
Wiener Erfindung. Als Novum der Wiener Weltausstellung von 1873
ermöglichte sie imaginäre Reisen auf kleinstem Raum; ihre
Wirkungsgeschichte reicht bis zu den heutigen Vergnügungsparks und
Shopping Malls. Eine andere Koinzidenz im Schaustellergewerbe: 1895,
im selben Jahr wie die Biennale di Venezia, wurde im Prater die
Schaustadt „Venedig in Wien“ eröffnet - echte Gondeln in künstlichen
Kanälen. Venedig und Wien waren also einst illusionistisch intensiv
verbunden und eng verzahnt. In der italienisch-österreichischen
Geschichte finden sich daher auch blutige Lagen, z. B. der
Alpenkrieg von 1915-18: der überraschende Bündniswechsel der
italienischen Armee, die blutigen Schlachten am Isonzo und in den
Dolomiten. Bis heute spricht man in Kärnten, wo Hans Schabus
herstammt, abschätzig von „welscher Treue“ und stolpert am
Karnischen Höhenweg unentwegt über Bunkeranlagen. An all diesen
historischen Wegmarken versuchte Hans Schabus sein Venedig-Projekt
auszurichten. Verglichen mit der aufgegriffenen Themenvielfalt und
Assoziationsflut, ist sein zusammenfassendes Transformationsobjekt
sehr kompakt geworden: Statt auf den alten Pavillon treffen die
Besucher nun auf einen hohen Berg. „Das letzte Land“, so der Titel
seiner Arbeit, ist ein Mentalitätsbergwerk, eine Art Trojanisches
Pferd im Kalten Krieg des Amüsierbetriebs, eine temporäre
Bergfestung aus Holz und Teerpappe. Es soll kein
naturalistischer Berg sein, eher soll er kristallin und räudig
zugleich wirken. Von außen besehen drängen sich Erinnerungen
an expressionistische Filmarchitekturen auf, an das Kölner Glashaus
von Bruno Taut (1914!), aber auch an Robert Smithsons
Überschüttungsaktion „Partially Buried Woodshed“ von 1970. Zwölf
Ebenen und viele Wege durchziehen das begehbare Innere des Berges.
Anklänge an die „Carceri“, die imaginären Gefängnisse von Giovanni
Battista Piranesi (1743/61), sind durchaus gewollt. Welcher Sound im
Berg die Atmosphäre bestimmen soll, ob tatsächlich von Hubschraubern
wie in F. F. Coppolas Film „Apocalypse Now“, stand bei
Redaktionsschluss noch nicht fest. Sicher jedoch ist, dass sich
überall im Berg Luken öffnen lassen werden. Ob da hinausgeschossen
oder -geschaut werden soll/kann/muss, verbleibt in der Ambivalenz
des Kontextes - zwischen ehemaligem Exerzierplatz und sublimiertem
Wettstreit der Nationen, zwischen Tarnung und touristischem
Schaustellergewerbe. +
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