„Wer sich ausdrücken möchte, hat Angst“
Ai Weiwei. Seit über einem Monat ist der chinesische Künstler in Haft. Pekings Kunstszene befindet sich in Schockstarre.
Peer Junker Peking (SN). „Ein Land, das die Wahrheit zurückweist, Veränderungen verweigert und dem es am Geist der Freiheit mangelt, ist hoffnungslos“, hat Ai Weiwei einst in einem seiner Blog-Einträge geschrieben. Den von ihm beschriebenen Mangel an Freiheit spürt der chinesische Künstler nun in drastischer Form. Seit über einem Monat ist er verschwunden.
Seit seiner Festnahme am 3. April verringert sich die Hoffnung all jener Chinesen, die sich in ihrem Land frei äußern wollen. Seit Monaten geht Chinas Führung verstärkt gegen Kritiker vor. Der Fall Ai Weiwei zeigt, dass auch Künstler nicht mehr vor den Repressionen sicher sind. Wie kann man unter diesen Bedingungen als Künstler in China arbeiten? Friedlicher Schein trügt Nach der Festnahme Ai Weiweis befindet sich die Kunstszene der chinesischen Hauptstadt in einer Schockstarre. Im Künstlerviertel „798“ ist davon auf den ersten Blick nichts zu spüren. Touristen schlendern über das alte Industriegelände, lassen sich von Straßenmalern porträtieren, sitzen in einem Café oder schauen sich in Galerien um. Kaum etwas erinnert an Ai Weiwei, der 2001 an der Entstehung dieser Kunstzone beteiligt war. Doch der Schein trügt. Zwar hat Chinas Regime den wirtschaftlichen Nutzen des wachsenden Kunstmarkts im eigenen Land erkannt. Frei entfalten darf sich dieser deswegen nicht.
„Nach unserem Gefühl befinden wir uns in der schlimmsten Phase seit 1989. Die Politik ist rückwärts gewandt, die Rede- und Meinungsfreiheit wird eingeschränkt wie lang nicht“, sagt Gao Zhen. Er und sein Bruder Gao Qiang haben im Viertel „798“ ihr Atelier. Es ist ihnen verboten, es für Publikum zu öffnen.
Die Verhaftung Ai Weiweis hat die Gao-Brüder geschockt. Wie so viele hatten sie gedacht, Ais Berühmtheit und der Schatten seines Vaters Ai Qing, dessen patriotische Gedichte noch heute in Chinas Schulen gelehrt werden, könnten ihm als Schutzschild dienen. „Jetzt zeigt sich, dass es egal ist, welchen Hintergrund du hast. Sobald die Geduld der Regierung am Ende ist, schlägt sie zu“, sagt Gao Zhen.
Chinas Künstler kämpfen mit der Willkür der Behörden. Die Gao-Brüder testen mit ihrer Kunst immer wieder aus, wie weit sie gehen können. Über Jahre durften sie nicht ausreisen. In China konnten sie viele ihrer Werke bis heute nicht ausstellen. Ihre Kunst ist politisch, setzt sich häufig mit Chinas Geschichte auseinander. Besonders die Kulturrevolution, unter der auch ihre Familie zu leiden hatte, spielt eine Rolle in den Werken der Gao-Brüder. Berühmt ist ihre Installation „The Execution of Christ“: Mao-Figuren in Lebensgröße richten ihren Gewehrlauf auf Jesus, eine von ihnen schaut zu Boden. „Wir versuchen mit unserer Kunst und in dem, was wir sagen, immer klar unsere Meinung zu äußern. Natürlich erschwert das unsere Arbeit“, erläutert Gao Zhen.
Offener Protest gegen die Verhaftung Ai Weiweis ist in dieser angespannten Situation kaum möglich. Eine von Künstlern geplante Demonstration für Ai im „798“ wurde im Vorfeld verhindert. Kritik an den Behörden ist, wenn überhaupt noch, im Internet möglich. Doch auch dort wird es immer schwieriger, die Zensur zu umgehen. Eine Internetseite, auf der man Poster mit der Forderung „Befreit den Genossen Ai Weiwei“ herunterladen kann, gehören zu den Aktionen, die Solidarität mit Ai Weiwei zeigen. Neuer Trickfilm In China gibt es kaum Raum für abweichende Meinungen. Der Videokünstler Wang Bo versucht den winzigen Spielraum zu nutzen, der geblieben ist. Mit einem neuen Trickfilm dokumentiert er den Fall Ai Weiwei und die Grenzen der Meinungsfreiheit in China. Ein Nachrichtensprecher beginnt seinen Bericht: „Es war einmal ein Chinese, der Sonnenblumenkerne verkaufte . . .“ Bevor er den Satz beenden kann, wird er von seinem Nachrichtenstuhl gezerrt. Der nächste Sprecher kann nur noch „Es war einmal . . .“ sagen, bevor er weggeschnappt wird. Der letzte traut sich nur einen Seufzer auszustoßen, der sich anhört wie der Name Ai.
Mit den Sonnenblumenkernen spielt Wang Bo auf eines der bekanntesten Werke Ai Weiweis an. Für die „Tate Modern“ in London ließ er 100 Millionen Sonnenblumenkerne aus Porzellan anfertigen. So zeichnete er ein Bild Chinas, in dem das Individuum in der Masse unterzugehen droht.
Auch die Kunst der Gao-Brüder spielt immer wieder mit diesem Thema. Schon deshalb stellt sich den Künstlern die Frage, ob ihnen ein ähnliches Schicksal wie Ai Weiwei droht. „Jeder, der sich frei ausdrücken möchte, hat diese Angst. Um uns verschwinden immer wieder Menschen. Das passiert die ganze Zeit“, so Gao Zhen.
Die Verhaftung Ais interpretiert er als Warnung an alle, es mit Kunst und Kritik nicht zu weit zu treiben. „Kreativität ist die Kraft, die Vergangenheit abzulehnen, den Status quo zu verändern und neue Potenziale zu suchen“, hat Ai Weiwei einmal geschrieben. Chinas Führung ist offenbar nicht bereit, ein derartiges Kunstverständnis zu akzeptieren.