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06.09.2002 - Ausstellung
Mumok: Artaud oder: Müde Moderne sucht nach ihren wilden Wurzeln
Cathrin Pichler präsentiert im Wiener Museum moderner Kunst ihre penible Erforschung einer Ikone der Moderne: Antonin Artaud.
VON BARBARA PETSCH


Immergrüner Artaud. Die Kunst-Rezeption kann nicht von ihm lassen, die Bühnen schon gar nicht - in diesen Zeiten, da sich das Schlagwort vom "Theater der Grausamkeit" infolge schierer Überreizung und Überstrapazierung verbraucht hat. Dafür verspricht der Name Artaud noch immer Zulauf.

Das Burgtheater spielt im Kasino sein Stück "Die Nervenwaage". Bei den Festwochen spannte die subversive US-Frohnatur Peter Sellars Artaud ein für die Demonstration der absurden Seiten der amerikanischen Militärmaschinerie: "For an End to the Judgement of God" war ebenfalls im Burgtheater-Kasino zu sehen. Und das Berliner Ensemble bietet den wunderbaren Nerven-Schauspieler Martin Wuttke auf für eine fiktive Begegnung Artauds mit Adolf Hitler.

Cathrin Pichler, Kuratorin großer Erkundungen der Moderne in Ausstellungen wie "Wunderblock" oder "Crossings", holt Artaud nun dorthin zurück, wo er, zugegeben absurderweise, hingehört: Ins Museum. Heute, Freitag, wird die "Hommage à Antonin Artaud" - ursprünglich für den Steirischen Herbst 2001 geplant - im Museum moderner Kunst eröffnet: passend eingebettet in dessen Erforschung des Wiener Aktionismus.

Artaud (1896-1948): Ein Gesamtkünstler, lebenslang belastet von den Folgen einer Meningitis-Erkrankung im Kindesalter, drogenabhängig, starb im Sanatorium. Seine schreckliche Lebensgeschichte ist ein Kapitel für sich. Seine Faszination aber reicht über die Suche einer müden Moderne nach ihren wilden Wurzeln hinaus. Das Zwingende liegt in der überquellenden Phantasie und Phantastik Artauds, im Schönen wie im Schrecklichen, in der Analyse wie in der Groteske. Verbunden mit einer Aura, die Vision und Leben untrennbar zusammen zu schweißen scheint - und so von einer ewigen Sehnsucht des Menschen und des Künstlers erzählt: Einheit von Kunst, Utopie, Geist, mit dem Leben, der Realität.

Die diskret inszenierte Schau im sechsten Stock des Mumok verfolgt den Menschen wie den Künstler in vorsichtigen, strengen, chronologischen Schritten und Schnitten. Cathrin Pichler, die das Projekt seit 1995 vorbereitete, und ihr Kollege, der Schweizer Hans Peter Litscher, haben viel unbekanntes Material zutage gefördert.

Im Entrée ist ein Video zu sehen. Den Übergang zur Schau bildet eine Photo-Collage, großteils Aufnahmen des bereits von seiner Krankheit gezeichneten Künstlers. Hauptteil der Ausstellung sind Schriften, Bücher, Zeitungen, Photos, Plakate, Zeichnungen. Erstmals werden die "Cahiers" gezeigt, Notizhefte, die Zusammenhänge zwischen bildnerischem und schriftlichem Werk herstellen. Zu sehen ist der kleine Antonin mit seiner Familie, die der wohlhabenden Marseiller Bourgeoisie angehörte. Ausführlich sind Artauds Annäherungen an den Surrealismus dokumentiert - und sein zorniger Bruch mit ihm.

Die deutlichste Kontur gewinnt der Künstler naturgemäß in seinen Texten, Zeichnungen: einer geschundenen Ophelia, Porträts, die an Van Gogh erinnern oder der Darstellung vom Formen-Irrsinn des babylonischen Turms. (Siehe Photo).

"Die Sprache durchbrechen, um das Leben zu ergreifen, das heißt, Theater machen, neu machen . . ." - "Es geht darum, der Vorstellung auf der Bühne den Aspekt eines verzehrenden Feuers zu verleihen . . ." - "Mögen die Kotfresser mir zuhören, die Aphasiker und allgemein alle, die durch die Worte und die Sprache in Verruf gerieten  . . ." - "Was mich von den Surrealisten trennt, ist daß sie das Leben so sehr lieben, wie ich es verachte".

Artaud war weder ein Art-Brut-Vertreter noch eine multiple Persönlichkeit, das wollten die Ausstellungsmacher dokumentieren. Freilich: Daran hat vermutlich kaum keiner gezweifelt. Artaud dem Theater zurückgeben mit einer Ausstellung im Rahmen eines Festivals, eben des Steirischen Herbsts - das war ein weiteres Ziel. Die Aktualität hat die Idee überholt und die Theater-Versuche überzeugen nur bedingt.

Was bleibt? In der Rückschau, aus der Entfernung der Blick auf eine Ikone, die Suche nach einer verlorenen Zeit, sehr viel Papier, noch mehr Information, aber wohl kaum eine Wiederauferstehung für den Feuerkopf Artaud über seine historische Bedeutung hinaus.



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