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Kunstberichte
Museum der Moderne in Salzburg: Der "Brücke"-Maler Ernst Ludwig Kirchner in einer Retrospektive

Berliner Kokotten und Davos im Schnee

Das Bild – Öl auf Leinwand – zeigt ein Selbstbildnis des Künstlers Ernst Ludwig Kirchner mit einem Mädchen (1914/15). Foto: Staatliche Museen Berlin, Nationalgalerie

Das Bild – Öl auf Leinwand – zeigt ein Selbstbildnis des Künstlers Ernst Ludwig Kirchner mit einem Mädchen (1914/15). Foto: Staatliche Museen Berlin, Nationalgalerie

Von Krista Hauser

Seine expressiven Gemälde, seine Zeichnungen und Holzschnitte hängen in internationalen Museen und Privatsammlungen, doch in Österreich wurde die Bedeutung Ernst Ludwig Kirchners verschlafen. 1938, dem Jahr, da der Künstler Selbstmord verübte, wurde er in der berüchtigten Ausstellung "Entartete Kunst" im Salzburger Festspielhaus gezeigt. Erst 1990 folgte in der Bank Austria eine erste Personale.

Toni Stoos, Direktor des Museentempels am Mönchsberg, leistet jetzt Wiedergutmachung, denn für ihn zählt Kirchner im 20. Jahrhundert neben Paul Klee und Max Beckmann "zu den bedeutendsten und innovativsten Künstlern Deutschlands".

Gemeinsam mit dem Kirchner-Experten und dem Kurator Lucius Grisebach wurde eine klassische Retrospektive für diesen radikalen Bohemien erarbeitet, der in Dresden und Berlin mit Gleichgesinnten die Kunst erneuern und selbst als zweiter Dürer in die Geschichte eingehen wollte. Was ihm jedoch nach wenig geglückten Ausflügen in die Abstraktion in den späten Jahren nicht gelang, woran er schließlich scheiterte.

Kirchners exzessives Leben mit Panikattacken, Alkohol und Drogen endete in Davos, seiner Wahlheimat. Hier hatte er einigermaßen Ruhe gefunden, war zum Maler der Berge geworden. "Davos im Winter", "Davos im Schnee", "Alpsonntag" oder "Stafelalp bei Mondschein" zählen zu Kirchners bekanntesten Werken aus der Schweiz. Ein Selbstbildnis, einen Farbholzschnitt in Schwarz und Blautönen mit dem sinnlichen Rückenakt einer kleinen Tänzerin, hat er allerdings Melancholie der Berge betitelt, entstanden 1929.

Spiegelbilder des Lebens und der Natur

In der chronologisch geordneten, locker gehängten Schau begegnet man vielen Highlights der wichtigsten Schaffensperioden: Gemälden wie "Grünes Haus" oder "Frühlingslandschaft", die er im Kreis der Künstlergruppe "Brücke" 1905 bis 1911 in Dresden malte. Kirchner war Mitbegründer der "Brücke", der auch Fritz Bleyl, Erich Heckel und Karl Schmidt-Rottluff angehörten. Die Auseinandersetzung mit der internationalen Moderne, vor allem mit den Franzosen ist spürbar. Frisch und spontan sollten die Arbeiten wirken, Leben und Natur in deren Vielfalt spiegeln. Wichtigstes Medium war die Zeichnung, wobei für Kirchner der Mensch im Mittelpunkt stand. Um das schnelle Erfassen der Bewegung ging es ihm und den Freunden und sie kreierten den sogenannten "Viertelstundenakt". Als Modelle dienten in den ärmlichen Ateliers die jeweiligen Gefährtinnen, die tanzend und liegend, verrenkt und stehend posierten.

In den folgende Berliner Jahren waren es vor allem fremde Frauen in der Großstadt, die Kirchner auf- und anregten: Kokotten, Prostituierte, da und dort vielleicht auch echte Damen. In diesen nervös anmutenden Straßenbildern hat er das urbane Lebensgefühl knapp vor Ausbruch des Ersten Weltkrieges eingefangen und einen neuen Bildtypus geschaffen, der ihn berühmt machte. Diese sieben Straßenbilder gelten heute als Ikonen, werden kaum auf Reisen geschickt. Nur ein einziges Mal waren sie gemeinsam zu sehen: 2008 im Museum of Modern Art in New York City.

Salzburg musste auf die Gemälde verzichten, doch es gibt Arbeiten auf Papier zu denselben Sujets: etwa eine Vorzeichnung in Kohle zum berühmten Gemälde "Potsdamer Platz", 1914, weiters ein Blatt in Pastell und Farbkreide mit dem Titel "Straßenszene mit grüner Kokotte", ebenfalls 1914 entstanden, und Holzschnitte von höchster Qualität. Dem, wenn auch nur kurzen Einsatz im Krieg war Kirchner weder physisch noch psychisch gewachsen. Er wurde beurlaubt, schuf mit dem Holzschnittzyklus "Peter Schlemihls wundersame Geschichte" eines der bedeutendsten Werke der Druckgrafik im 20. Jahrhundert. Für ihn persönlich vielleicht der Versuch einer Therapie, um die eigene existenzielle Krise zu bewältigen.

Dokumente einer Gegenwelt

Mit Hilfe von Freunden gelangte er 1917 in ein Sanatorium in Davos, wo er eine Gegenwelt zur Großstadt entdeckt. Die schönsten Dokumente dieser Gegenwelt: der Farbholzschnitt "Wettertannen" mit den schemenhaften Gestalten unter den schmalen violetten Stämmen im Schnee. Und noch ein zweiter Farbholzschnitt, nämlich "Wintermondnacht", die Erinnerung an ein Naturschauspiel in einer Mondnacht: blaue Berge, der Himmel rötlich violett mit rosa Wölkchen und der gelben Mondsichel. Bis zu seinem Freitod blieb Kirchner in Davos, wo es auch ein Kirchner-Museum gibt.

Aufzählung Ausstellung

Ernst Ludwig Kirchner
(1880–1938) Retrospektive
Museum der Moderne Mönchsberg, Salzburg
Tel. 0662/84 22 20 351
bis 14. Februar

Printausgabe vom Dienstag, 05. Jänner 2010
Online seit: Montag, 04. Jänner 2010 16:56:00

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