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Zone des Zwielichts: Edvard Munch im Leopold Museum

14.10.2009 | 18:22 | ALMUTH SPIEGLER (Die Presse)

Mit einer grandiosen Ausstellung über das Unheimliche in der Kunst rund um Edvard Munch verabschiedet sich der Kurator des Privatsammlers.

Was muss das für ein intimes Gelage gewesen sein: Überall, am weiß gedeckten Tischchen und am Boden, stehen die Champagnerflaschen, dazwischen Reste von Gebäck, Obst, Kuchen. Ein Zylinder liegt lässig auf einem Sessel, durch das Fenster glimmt bereits der Morgen, nur die ungewöhnlichen verwelkenden Blumenarrangements am Teppich stimmen verdächtig ... hier wird doch nichts verdrängt im bürgerlichen Stübchen?

Und wie. So gründlich sogar, dass das Hauptmotiv am linken Rand überhaupt der Schere geopfert werden musste: das tote junge Paar, das „Erstickt!“, so der Titel des Bildes, auf einem Sofa und am Boden liegt. 1884 ging dieser Doppelselbstmord in einem Mailänder Hotelzimmer „durch die Medien“, wie man heute sagen würde. Der Maler Angelo Morbelli jedenfalls illustrierte das Drama derart realistisch, dass seine Zeitgenossen schauderten. Er musste das Bild zerteilen – und konnte so zumindest das prächtige menschenleere Interieur der Turiner Moderne-Galerie verkaufen.

In Wien, im Leopold Museum finden die getrennten Teile nun erstmals wieder zueinander, das lange verschollene tote Paar wurde in einer italienischen Privatsammlung gefunden, berichtet Rudolf Leopolds Ko-Kurator, Michael Fuhr, der diese grandiose Ausstellung über das Unheimliche in der Kunst rund um Edvard Munch als eine Art Abschiedsgeschenk hinterlässt – nach fünf Jahren Söldnertum verlässt der Frankfurter das Leopold Museum und übernimmt ab 1.November das Städtische Museum in Flensburg.

 

Auf Europatournee mit der Leiche

Aus sicherer Entfernung kann dort vielleicht trefflicher darüber sinniert werden, warum gerade die Wiener als morbid gelten – in der Wiener Kunst spiegelt sich dieser Hang zu Allerseelen jedenfalls weniger wider als etwa in der belgischen, aber auch italienischen. Denn musste Morbelli sein chronikales Gemälde zwar noch zerschnipseln, um es wieder loszuwerden, verdiente sein Kollege Pietro Pajetta gut zehn Jahre später schon einiges Geld mit noch viel Makabrerem: Mit seinem Großformat einer Leichenschändung, basierend auf der damals populären Erzählung einer ziemlich unglücklichen Liebe, tourte er durch halb Europa und verlangte Eintritt für die Besichtigung.

An derlei Schauergeschichten ist diese große, 200 Werke umfassende Ausstellung dermaßen reich, dass einem am Ende vor lauter Ungeborenen, Dämonen, Waldgeistern, Pestvögeln, Schattengestalten, weggetretenen Damen und anderen irritierenden Erscheinungen die Augen irr zu kreiseln beginnen können wie bei Hitchcocks „Vertigo“. Dabei haben wir es heute leicht, haben Freuds Essay von 1919 über das verdrängte Vertraute, das uns so unheimlich scheint, mittels der dankbar dem Rezept folgenden Horrorindustrie längst verdaut. Nicht umsonst ist diese Jahreszahl die Obergrenze für die hier gezeigten Werke – so wird die Vorreiterrolle der bildenden Künstler des langen 19.Jahrhunderts aufgezeigt, beginnend um 1800 mit Goyas alptraumhaften „Caprichos“ und zwei schwer zu bekommenden Aquarellen des Schweizer Gothic-Begründers Johann Heinrich Füssli – ein schauderbarer „Wechselbalg“ von 1780 und „Der Alp verlässt das Lager von zwei schlafenden Frauen“ um 1810.

Die thematische Gliederung der Ausstellung macht eine Ikonografie des Unheimlichen bewusst, die sich in eindrücklichen Zusammenstellungen wie der „Treppen-Wand“ verdichtet: Piranesis spätbarocke „erfundene Kerker“ hängen da neben Eugène Laermans erdigem Treppenaufgang, vor dem drei unerklärliche Schuhe stehen, Alfred Kubins umnebelter „Stiege“, in deren Winkel sich eine Dame der Demimonde drückt und Theodor Kittelsen Pestskelett, das sich 1896 gerade die Dachbodentreppe hinaufschlich.

 

Maler mit übersinnlichen Kontakten

Vor allem Ende des 19.Jahrhunderts, im Symbolismus, häufte sich die Beschäftigung mit dem Unfassbaren – ein unglaublicher Raum ist den einschlägig zugange gewesenen Münchner Sezessionisten gewidmet, die ihre Erlebnisse bei Séancen derart drastisch darstellten, dass der Fantasie kein Millimeter bleibt. Weniger übersinnliche Kontakte pflegten derlei inspirierte Künstler quer durch Europa untereinander – so widmete James Ensor, der zeitlebens im Haus seiner mit Masken handelnden Mutter wohnte, dem Schweizer Maler Jaques Sonderegger eine Zeichnung, der belesene Kubin wiederum war großer Ensor- und Goya-Sammler.

Am Beginn und am Ende dieses zurückhaltend gestalteten, thematisch gegliederten Rundgangs durch die Twilight-Zone unseres entäußerten Innersten aber stehen 37 Gemälde und Grafiken von Edvard Munch. Hin und wieder besuchte er seine Münchner Kollegen, nahm an spiritistischen Sitzungen teil und fotografierte „Geister“, lichtempfindliche Dokumente, die Kurator Fuhr nicht verliehen bekam. Dafür bemerkenswerte Leihgaben des Osloer Munch-Museums, die Leopold im Tausch gegen eine Schiele-Schau 2007 ergattern konnte: Es sind die Traumata seines Lebens, die der Norweger in schwingende Formen und starke Farben goss, der frühe Tod von Mutter und Schwester, seine Kindheit, die er vor allem krank im Bett verbrachte, seine daraus folgende, lebenslange Scheu vor Schlaf. Sein Schlüsselerlebnis suchte Munch aber unter Vogelgekreische auf der Osloer Brücke am Fjord heim, auf der er eine Panikattacke erlitt – im Gemälde „Angst“ füllt eine steife Prozession von Menschen mit starrem Blick und grünen Gesichtern diese Brücke, auf der auch der berühmter „Schrei“ erschallte. Seit seinem Raub 2004 ist er matt geworden, die Malerei auf Karton rettungslos restauriert nach einem wochenlangen Martyrium in einem regennassen Kofferraum im Nirgendwo in einem tiefen, dunklen Wald.


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