07. Januar 2010 - 00:04 Uhr · Von Peter Grubmüller · Kultur

Das ungleiche Kulturhauptstadt-Trio

Nach Linz und Vilnius gibt es 2010 gleich drei Kulturhauptstädte Europas. Zusätzlich zum Doppel einer Stadt aus einem „alten“ und einem „neuen“ Mitgliedsland wurde erstmals auch ein Bewerber aus einem Nicht-EU-Mitglied ausgewählt. Der Bogen spannt sich von Pécs über das Ruhrgebiet mit der Zentrale in Essen bis nach Istanbul.

Auf dem Széchenyi-Platz der südungarischen Stadt Pécs (auf Deutsch: Fünfkirchen) wurde in den letzten Wochen des Jahres 2009 Tag und Nacht gearbeitet. Trotzdem sind die Ungarn nicht mit allem fertig geworden. Das einst avantgardistische Schlagwort „Work in progress“ (Werk im Entstehen) steht als Prinzip über dem Jahr der 160.000-Seelen-Stadt, die sich als erste Gemeinde Ungarns Europäische Kulturhauptstadt nennen darf. Für 125 Millionen Euro wird Pécs umgebaut, und es ist beachtenswert, was einmal entstehen wird. Etwa die Erneuerung des Viertels um die ehrwürdige Porzellanmanufaktur Zsolnay. Auf dem 3,5 Hektar großen Gelände sind ein Künstler- und Studentenviertel geplant – mit Kunsthalle, Ausstellungsräumen, Ateliers, Wohnungen, Grünflächen.

Individuelle Anreise

32 Millionen Euro stecken die Ungarn in das 2010-Programm, und sie werben damit, dass Pécs auf der Fahrt von Kulturhauptstadt 1, Essen und Ruhrgebiet, nach Kulturhauptstadt 3, Istanbul, ziemlich genau in der Mitte liegt. Die Anreise muss man individuell planen, weil der „internationale“ Flughafen geschlossen ist. Der angekündigte Bau einer großen Landebahn für die Kulturhauptstadtbesucher hat dann doch nicht geklappt. Das Tourismusamt preist dafür die praktische Zugverbindung Budapest–Pécs. Für einen klassischen Wochenendtrip ist Pécs also ungeeignet (außer für Budapester). Am Sonntag geht es mit einer Eröffnungszeremonie los, danach wird Dampf gemacht: Es gibt etliche Chortreffen, zeitgenössische Musikperformances von und mit Nicolas Frize, „World Stars in Pécs“ präsentiert, über das Jahr verteilt, Konzerte unter anderem mit Leonard Elschenbroich, Eva Mei oder dem Liszt Ferenc Chamber Orchestra. Im April steigt das „5. Internationale Reggae Festival“, im Mai gibt es „Folk-Tage“, im Juli den „10. Jubilee Rock Marathon“, im November die „East-West Passage“, ein Festival, das sich der „Balkan Welt-Musik“ widmet.

Studenten aus aller Welt treffen sich im Juli zum „Studenten-Theaterfestival“, außerdem: das „2. Welt Haiku-Konferenz“, das „Internationale Origami-Meeting“ findet statt – japanische Dicht- und Papierfaltkunst in Pécs. Weinliebhaber können das Kulturjahr für den Besuch eines der bedeutends-ten Forschungsinstitute für Weinbau und Önologie nützen: 1200 Sorten sind zu begutachten.

Essen und das Ruhrgebiet feiern ihre kulturhauptstädtische Geburt am 9. Jänner (ZDF überträgt live) – 100.000 Besucher werden auf dem Gelände des Weltkulturerbes „Zeche Zollverein“ erwartet. Schon die Gästeliste dieser Veranstaltung soll dokumentieren, wer in diesem Jahr wesentlich ist – angeführt wird sie von EU-Kommissionspräsident José Manuel Barroso. Unter dem Motto „Glück Auf 2010“ gewährt das Fest Einblicke in die Höhepunkte des Jahres, und Herbert Grönemeyer wird seine Hymne „Komm zur Ruhr“ präsentieren.

Breckerfeld bis Hamm

Fünf Millionen Besucher werden 2010 in der Region erwartet, 62 Millionen Euro kostet das einjährige Festival mit 300 Projekten und 2500 Einzelveranstaltungen, für das sich 53 Städte mit insgesamt rund fünf Millionen Einwohnern unter dem Titel „Wandel durch Kultur – Kultur durch Wandel“ zusammengeschlossen haben. Essen hat nicht allein den Zuschlag bekommen, sondern auch die Städte Bergkamen und Breckerfeld, Hattingen und Hamm, Marl und Moers oder Schwerte und Sprockhövel. Einige dieser Ortsnamen dürften viele Menschen außerhalb des Ruhrgebietes noch nie gehört haben. Das könnte nun bald anders werden.

„2010 ist ein Jahrtausendereignis, mit dem sich der Kohlenpott vom historisch bedeutenden Transitraum zum Touristenmagnet entwickelt“, sagt Fritz Pleitgen, der ehemalige WDR-Intendant und jetzige Chef von „Ruhr2010“. Zweigleisig lässt er das Vorhaben fahren. Einerseits spektakuläre Events für die Medienaufmerksamkeit schaffen, wie das „Still-Leben auf der A40“, bei dem im Juli die Hauptverkehrsader der Region auf 60 Kilometern Länge gesperrt und der längste Tisch der Welt aufgebaut wird, oder der Gesangstag mit einem 65.000-Stimmen-Konzert auf Schalke. Zum anderen geht es darum, die Lebensqualität über das Jubeljahr hinaus aufzuwerten. Dieses Ziel verfolgt etwa das Projekt „Phoenix-See“ in Dortmund auf dem Gelände eines abgetragenen Stahlwerks.

Ein wilder Korruptionsskandal und der Streit um das Programm haben die Vorbereitungen Istanbuls auf die Rolle als Kulturhauptstadt monatelang überschattet. Am Ende wurden von mehr als 2200 Vorschlägen 451 Projekte bewilligt, darunter Ausstellungen, Tanz, Theater und Konzerte. Enttäuscht wurden jene Künstler, die Istanbul nicht als lebendes Museum, sondern als Stadt im Aufbruch zeigen wollten. Für das Vorbereitungskomitee hagelte es Vorwürfe, etwa, dass öffentliche Kassen geplündert worden seien. „Hauptstadt der Korruption“, schrieb die Tageszeitung „Habertürk“, nachdem ein amtlicher Bericht öffentlich wurde: Der erste Chefplaner des Kulturjahres, Nuri Colakoglu, soll in Personalunion Projekte beantragt, bewertet und bewilligt haben. Er musste zurücktreten.
Istanbul ist der urbane Koloss im ungleichen Trio der Kulturhauptstädte 2010. Die Metropole mit rund zwölf Millionen Einwohnern zieht auch ohne EU-Umleitung sieben Millionen Besucher im Jahr an. Als Brücke zwischen Asien und Europa ist die Stadt Begegnungsstätte der Zivilisationen. Diese haben ein reiches kulturelles Erbe hinterlassen, das über Touristenmagneten wie die ehemalige byzantinische Kathedrale Hagia Sophia, die große Blaue Moschee – die eigentlich Sultan-Ahmed-Moschee heißt – und den osmanischen Topkapi-Sultanspalast hinausgeht.

Die Initiative für die Bewerbung als Kulturhauptstadt „ging von der türkischen Zivilgesellschaft aus, nicht vom Staat“, wird am Sitz der für die Organisation gegründeten, nach Eigendarstellung unabhängigen Agentur betont. Zur Realisierung der Kulturhauptstadt standen in den Jahren 2008 und 2009 111,4 Millionen Euro bzw. 394 Mio. Euro zur Verfügung. Das staatliche Budget für 2010 steht bis jetzt noch nicht fest.

Pamuk- und Filmmuseum

Neben der Renovierung der baulichen Schätze wird ein Archäologie-Park angelegt, eine verlassene Synagoge neu gestaltet und eine armenische Kirche als Kulturzentrum hergerichtet. Literatur-Nobelpreisträger Orhan Pamuk und der türkische Film bekommen jeweils eigene Museen. Und erstmals nimmt das türkisch-muslimische Istanbul – und sei es auch nur in Ausstellungen – die griechische Vergangenheit der Stadt wahr.

Quelle: OÖNachrichten Zeitung
Artikel: http://www.nachrichten.at/nachrichten/kultur/art16,317308
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