Salzburger Nachrichten am 12. Juni 2002 - Bereich: kultur
Multikulturelle Geschichten erzählen

Die "documenta" in Kassel als Weltkunstschau: einige Entdeckungen, die tradierte Werte verschieben

Neben Reportagen aus aller Welt, neben Einblicken in bislang exotische Bereiche, neben dezidiert politischer Arbeit in der Bildenden Kunst, haben sich Erzählformen etabliert, die, symbolhaft wie Märchen, die Realität der Werteverschiebungen in einem interkulturellen Raum darstellen. Dabei ist die Kunstpraxis nicht auf Film, Video oder Fotografie sowie Datensammlungen beschränkt.

Dem Bild misstraut Alfredo Jaar in seiner "Lament of Images" betitelten Arbeit. Gerade durch die Einbindung eines Textes, einer politischen Botschaft (die Torturen, denen Nelson Mandela ausgesetzt war, oder die Luftangriffe auf Kabul am 7. Oktober 2001 und den parallelen Ankauf aller Rechte für Satellitenbilder) in ein künstlerisches Environment schafft Jaar einen zusätzlichen Ausdruck. Nachdem man die in Leuchtkästen platzierten Texte gelesen hat, muss man durch finstere Gänge den Ort verlassen, um plötzlich in einem grellen Lichtraum (mehr oder weniger geblendet) zu stehen. Man hat das Gefühl, ihn eiligst wieder verlassen zu müssen, um den Augen wieder normale Sicht zu gönnen. Alfredo Jaar ist in Chile geboren und lebt in New York.

Doris Salcedo vermittelt durch die Transformation von Möbeln (Tischen und Stühlen), was aus dem Alltag geworden ist. Entweder sind die Möbel in ihrer Materialität entfremdet oder sie verstellen oder verspannen irrational anwachsend verschachtelte Räume. Sie führen sozusagen ein künstliches Leben. Doris Salcedo ist in Bogota geboren und lebt auch dort.

Jeff Wall zeigt in seiner für die "documenta 11" erstellten konzeptuellen Fotografie eine dieser subjektiven Welten, die sich Menschen schaffen, welche ein normiertes Einerlei fliehen. Konkret versucht "The Invisible Man" in einer Kellerwohnung in Harlem mit 1369 Glühlampen Licht in seine Sache zu bringen. Jeff Wall ist in Vancouver geboren und lebt auch dort.

Isaac Julien teilt die Filmleinwand in drei Teile und lässt parallel Filme laufen, die sich aufeinander beziehen und deren Protagonisten mitunter die Felder queren. Vom Leben der Schwarzen mit den Wei-ßen, als Autonome im Einklang mit der Natur, als Diener der Kolonialherrschaft, als Konkurrenten in den Metropolen fabuliert Julien in Bildern, als wäre er ein Märchenerzähler. Seine Bilder sind zwischen Realität und Fiktion angesiedelt. Wie Hass und Liebe entstehen können, präsentiert er mit einem "Herrn der Ringe", der versilberte Fußbälle wie Wahrsager-Kristallkugeln befragt und ihrem Lauf Bedeutungen zuordnet. Mit seiner Arbeit "Paradise" ist er wohl auf der Suche nach Möglichkeiten zu einem neuen Miteinander. Isaac Julien ist Londoner.

JANA WISNIEWSKI