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vom 24.08.2007 - Seite 021
Der digitale Gedächtnisschwund

Katastrophal sind derzeit die Zukunftsaussichten für digitale Archive: Durch wenig haltbare Speichermedien und den rasanten Fortschritt in der Computertechnologie werden historisch wertvolle Dokumente unbrauchbar. Bibliotheken, Kunst und auch Privatfotos versacken in der digitalen Amnesie.

VON IRENE GUNNESCH

Stellen Sie sich vor, Sie haben ein Computerkunstwerk geschaffen. Vielleicht irgendwann vor zehn Jahren. Auf einem mittlerweile längst überholten Computer. Auf einem längst überholten System. Und jetzt ist passiert, was man "den Weg alles Irdischen" nennen könnte. Das Kastl hat Schrottwert. Ihre Werke auch. Denn die neue Hard- samt Software ist nicht im Stande, das Original zu rekonstruieren, wie es war. Pech.

Es war im Jahr 2001, als bei der damaligen Ars Electronica dieser Problematik ein eigener Themenblock des Symposions gewidmet war. Ob der Ewigkeitsanspruch in der Philosophie des schnelllebigen neuen Mediums globaler Netzkunst überhaupt nicht längst zum Vergessen ist, sei hier nur einmal als Frage in den Raum gestellt. Schließlich geht es bei dieser Art von Kunst großteils nicht um ein abgeschlossenes Bildwerk, sondern um sich ständig erneuernde Prozesse, um "work in progress".

Unwiederbringlich verloren

Abgesehen davon: Durch wenig haltbare Speichermedien oder sich verändernde Datenformate drohen nicht nur Netzkunst, private Urlaubsfotos und Familienfest-Videos verloren zu gehen. Auch vieles dessen, was unsere Zeit an Wissen produziert und in den Archiven großer Bibliotheken zunehmend digital gespeichert wird. Nach Meinung mancher Experten droht sogar so etwas wie eine "digitale Amnesie".

Eine beachtliche Datenmenge aus der Anfangszeit des World Wide Web ist ja bereits unwiederbringlich verloren gegangen: viele der allerersten Webpages beispielsweise, oder die Anfänge der E-Mail-Kommunikation.

Derartiges sei jedoch "für die Alltagsgeschichte von immenser Bedeutung", betont Johanna Rachinger, die aus Neufelden im Mühlkreis stammende Generaldirektorin der Österreichischen Nationalbibliothek.

Die Bewahrung ist nicht allein eine technische Frage: Die eigentliche Herausforderung ist die Erhaltung der Benutzbarkeit. Und wie bereits bei der Linzer Ars 2001 prognostiziert, werden zunehmend die Anleitungen überliefert, also die Partitur. Die Informationsinhalte zur Herstellung werden getrennt gesichert.

Doch oft - etwa bei Poesie - sind auch Darstellungseigenschaften signifikant und müssen mitarchiviert werden. Ein anderer Ansatz ist radikaler - und aufwändiger: So werden ganze Computersysteme (mit Betriebssystem, Software u. Ä.) "emuliert", das heißt, als Software-Umgebung nachgebildet, um die Lesbarkeit der in diesen Systemen gespeicherten Daten auch in Zukunft zu bewahren.

Johanna Rachinger erzählt, dass etwa die Österreichische Nationalbibliothek jeden Datensatz auf zwei verschiedene Festplatten sowie auf Magnetbändern speichert, die im Hochsicherheitsspeicher des Bundes in St. Johann in Pongau gelagert werden.

Das älteste digitale Archiv betreibt übrigens die NASA. Seit 1966 gibt es das National Space Science Data Center, das schon zahlreiche Technologieschritte überstanden hat. Hoch subventioniert, versteht sich.

Ein Paradoxon?

Im Bewusstsein für den Erhalt des digitalen Erbes formulieren Bibliotheken, Archive sowie Regierungen auf nationalen Ebenen und in EU-Projekten ihre Strategien. Lösungen gibt es noch keine. Ob es die in einer Zeit, in der mittlerweile der technische Fortschritt die geistige Beweglichkeit der meisten Menschen überholt, aber wirklich geben können wird, sei gehofft, aber dahingestellt.

Ein echtes Paradoxon zum Schluss: Die Österreichische Nationalbibliothek hat erst kürzlich Teile ihres jahrtausendealten Papyrus-Bestandes digitalisiert ...

Jung und schon zum "alten Eisen" gehörend: Digital-Schrott

Foto: OÖN/kran


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