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René Ammann ‹Es war wie im Zoo›, schrieb Matthias Frehner in der ‹Neuen Zürcher Zeitung› trefflich über die gerade eröffnete Biennale und Harald Szeemanns ‹Plateau der Menschheit›. Zoo-Besuche sind bekanntlich nicht ohne Reiz. René Ammann war als Übersetzer und Trouble-Shooter von Mr. Peacock alias Mr. Alÿs dabei (‹Peacocks and artists are birds of a feather›, so die Londoner Times). Und als einer der Helfer bei Santiago Sierras Performance, bei der 133 dunkelhaarige Immigranten blond gefärbt wurden.
Auf Plateausohlen zur Menschheit

Mit Santiago Sierra, Mr. Peacock alias Francis Alÿs, Helfern, Freunden und anderen Verzweifelten unterwegs in Venedig

links: Francis Alÿs’ Lieblingspostkarte von Venedig
rechts: Santiago Sierra · 133 Personen, die dafür bezahlt wurden, sich das Haar blond färben zu lassen, Venedig Juni 2001; Foto: Rafael Ortega, Courtesy Galerie Peter Kilchmann, Zürich

Die 49. Biennale in Venedig ist noch bis zum 4.11. geöffnet (jeweils Mo geschlossen). Informationen: +39 041 521 89 15 oder +39 025 49 14; dae@labiennale.com. Der zweibändige Katalog it/e wurde von Electa publiziert und kann auch telephonisch bestellt werden (+39 0254 914, Preis: ITL 100.000 plus Portospesen). Gleichzeitig ist ein kompakter Kurzführer erschienen (ITL 10.000).

‹Mhmmm, Pfauenbraten!› B. verdreht die Augen. ‹Pfauenbraten schmeckt gut!›
‹Ach, wirklich?›, sagt D. und nippt an ihrem Glas Mineralwasser. ‹Das Fleisch ist steinhart, hab ich mir sagen lassen. Ausserdem bringen Pfauen Unglück.› Und dann, zu mir gewendet: ‹Sag mal, gibt es keine Künstler mehr, die einfach Bilder malen, die man an die Wand hängen kann? Färben Immigranten das Haar blond und führen Pfauen spazieren…›
‹Äh…›
‹Also das mit dem Unglück, das hast du falsch verstanden›, fährt B. dazwischen und fuchtelt mit der Pizzakruste. ‹Pfauenfedern an den Hut stecken oder so, DAS bringt Unglück, Schätzchen. Sagte meine Mutter schon. Venezianerin durch und durch. Aber ein Pfau, der schmeckt gut. Meine Nachbarn tischten zu Weihnachten einen auf. Haben ja fünf Kinder, wo kämen die mit einem dieser knochigen Hühnchen hin?!›
Ich ziehe die Schultern hoch und nehme einen tiefen Schluck Mineralwasser. Es ist wieder Biennale. An der Via Garibaldi, wo ohne Biennale das Fegefeuer lodert, ist die Hölle los.
‹Bedienung!›, ruft der Schwedentisch hinter uns, ‹wir sitzen schon seit einer Stunde hier! Wir wollen etwas bestellen!›
‹DIESE Gäste hier warten schon eine Stunde und zwanzig Minuten!›, kreischt die Wirtin und dreht sich ab.
‹Mein BIER!!!›, rufe ich in ihren Rücken.
‹Ja, ja, ja, kommt alles. Es ist zum Verrücktwerden. Können Sie sich nicht einen Moment gedulden?›

Wirtinnen, die auch nur zwei Hände haben.

‹Sowieso: Warum musst du ein Bier trinken?›, keift B. ‹Und das am Mittag! Kleiner Schweizer Säufer, was!?›
‹Mittag? MITTAG?›, gebe ich zurück, ‹es ist halb vier!›,
‹Hört auf zu streiten›, sagt D., ‹erzähl lieber, wie das mit dem Pfau ging und mit den blonden Senegalesen›.
‹Also gut. Die Pfauen kommen aus Rom. Sie wurden während fünf oder sechs Wochen an die Anwesenheit von Menschen gewöhnt. Pfauen sind ja eher scheu und zwacken dir in den Finger, wenn du zu nahe kommst. Oder sie hüpfen auf einen Ast und schreien LeoK LeoK oder so.›
‹Moment›, sagt B., ‹ich dachte, das sei bloss ein Pfau?›
‹Ja, schon, aber es sind eigentlich drei in Venedig. Zwei Männchen und ein Weibchen. Und drei Betreuer. Aber es ist immer nur ein Pfau auf der Gasse. Er vertritt den Künstler. Er geht Pizza essen, stolziert durch die
Calle von Venedig und fährt Vaporetto. Wie es der Künstler getan hätte, Francis Alÿs.›
‹Der hat aber einen merkwürdigen Namen für einen Mexikaner›, sagt B.
‹Er ist Belgier und wohnt in Mexiko-City.›
‹Aha.›
‹Und die haben den Pfau tatsächlich aufs Vaporetto gelassen?›, fragt D.
‹Ja. Allerdings nur einen Weg. Zum Lido. Dort sass er mit dem Vertreter der Galerie in einer Pizzeria. Der zweite Vaporetto-Kapitän wollte ihn nur im Käfig mitreisen lassen. Er hatte Angst, dass Mr. Peacock Passagiere zwickt. Dabei ist der so gefährlich wie eine Taube.›
‹Und wie kam er zurück?›
‹Mit dem Taxiboot.›
‹Nobel, nobel. Kostete sicher 60.000.›
‹80.000. Für Mr. Peacock, den Betreuer, den Galeristen und den Fotografen. Francis erfindet kleine Geschichten. In Mexiko-City hat er aus einem Magneten einen kleinen Hund auf Rollen gebastelt und ist damit durch die Strassen spaziert. Am Abend war der Hund voller Metallteile, Cola-Verschlüssen und Nää… Signora! Mein BIER!›
‹Ja, ja, kommt, ich habe auch nur zwei Hände!›
‹Hm… äh… wo war ich?›
‹Beim Hund.›
‹Ah, ja… Oder er hat einen ziemlich grossen Eisblock übers Trottoir geschoben, bis nix mehr übrigblieb.›

Pfauen, die Vaporetto fahren.

‹BEDIENUNG! Wir haben Hunger!› ruft der Schwedentisch. ‹Wir sitzen schon seit einer Stunde UND zwanzig Minuten hier!›
‹Na, bravo›, sagt B. ‹sie haben schon dazugelernt.›
‹Sei nicht so bissig!›
‹Ah, da bist du ja!›, sagt der Galerist, ‹ruf bitte die Ambulanz!›
‹Für wen? Was ist denn passiert?›
‹Für T. Sie hat einen Asthma-Anfall.›
‹Oje! Warte, ich ruf gleich an!›
‹T.? Ist das nicht die Kritikerin? Nein!, das ist ja furchtbar! Warum denn das?›, fragt B.
‹Es ist beinahe zu einer Schlägerei gekommen. Jemand hat M., als sie den Kleinen im Arm hatte, so grob geschubst, dass sie über einen Tisch gefallen ist. Wo M. doch Bauchweh hatte und letzte Nacht im Spital verbrachte. Darauf stand Santiago auf und beschimpfte die Wirtin, der Koch kam aus der Küche und beschimpfte S. Und T. kriegte einen Anfall.›
‹Hallo? Ambulanz? Wir haben einen Notfall! Wo? Via Garibaldi! Ostaria M.… Ein Asthma-Anfall! Können Sie jemanden… hallo?›
Aus dem Augenwinkel sehe ich T. aus dem Lokal torkeln, hinter ihr M. Der Galerist folgt ihnen.
‹Ambulanz? Ambulanz?› Ich höre noch, wie ich weiterverbunden werde. Dann bricht die Leitung ab. Ich wähle nochmals.

Galeristen, die 120.000 Lire pro Blondschopf zahlen.

‹Das ist übrigens Santiago.›
‹Sehr erfreut›, sagt B.
‹Sehr erfreut›, sagt D.
‹Sehr erfreut›, sagt Santiago, ‹T. sagt, es gehe ihr wieder besser. Sie brauche keine Ambulanz.›
Er folgt T.
‹Das war Santiago Sierra. Er hat die Performance mit den 133 Immigranten durchgeführt.›
‹Aha. Woher kamen denn die alle?› fragt B.
‹Die meisten aus Senegal, Bangla-Desh, China, aus Mazedonien und dem Süden Italiens. Und zwei Dutzend Coiffeusen aus Milano. Sie arbeiten für den Sponsor. Schwarzkopf. Sie haben den Teilnehmern die dunklen Haare hyperblond gefärbt.›
‹Schwarzkopf?›, sagt B., ‹passt gut! Und wie habt ihr die gefunden?›
‹Mit Hilfe der Biennale, telefonisch, auf der Strasse. Santiago hat Dutzende auf der Strasse angesprochen. Und der Galerist hat allen Teilnehmern beim Ausgang 120.000 Lire in die Hand gedrückt. Bei Sierras Performances werden die Beteiligten immer bezahlt, ob er eine Galerie mit 465 Personen füllt, und das Vernissagenpublikum keinen Platz mehr hat oder Leute tätowieren lässt.›
Das Handy piepst. Ein SMS. ‹Liege am pool. Nach ayurvedischer massage jetzt fruchtsaft. Wie gehts pfau? Willst du souvenir?›
‹Bring cruise missile oder eine rikscha›, schreibe ich zurück.
‹Gibt es hier beides nicht. Suche geknüpften makramee-pfau für dich.›
Die Geschichte vom Pfau in Venedig hat also schon Sri Lanka erreicht.
Das Handy piepst. Ein Anruf von L. Sie betreut zusammen mit Rocco, dem Pfleger, Mr. Peacock. ‹Hör mal, da ist dieser Vertreter der Biennale, der redet wie verrückt auf mich ein. Ich weiss nicht genau, was er sagt, er spricht nur italienisch, aber er ist sehr böse. Ich glaube, er sagt, er wisse nichts von der Performance.›
‹Das ist doch nicht möglich!? Die steht ja sogar im Katalog! Kann ich mit ihm sprechen?›
‹Er ist schon wieder weg.›
‹Wo seid ihr denn gerade?›
‹In den Giardini.›
‹Bedienung?! Zahlen, bitte!›
‹Okay. Das Essen. Ein Liter Wasser. Und ein Bier›, sagt die Wirtin.
‹Was? Ein Bier? Das habe ich doch gar nie gekriegt!›
‹Na, na, na, Sie hätten doch etwas sagen können! Man darf doch wohl noch etwas vergessen! Oder?›

Gregor Schneider und Maurizio Cattelan Eine der interessantesten Arbeiten der diesjährigen Biennale ist das Haus ‹ur› von Gregor Schneider (*1969) im Deutschen Pavillon. Seit ungefähr fünfzehn Jahren baut dieser Künstler in seinem Geburtsort Heyth bei Mönchengladbach permanent ein altes, dreistöckiges Haus um, verdoppelt Wände, konstruiert neue Räume, verbarrikadiert Fenster und Türen und schafft so ein abstraktes Gehäuse, das sämtliche kindlichen Urängste in uns herauf-beschwört, vergegenwärtigt und physisch erfahrbar macht. Es ist ein Haus, das unsere häusliche Existenz hinterfragt. Es ist aber auch ein Erfahrungsraum im Zeitalter der Domestizierung von risikoreichen Abenteuern wie Höhlenforschung, Bergsteigen, Kanalisations- oder Dschungelexpedition.

Gregor Schneider trifft mit seinem Haus, an dem er fortwährend weiterarbeitet, in uns zwei ganz unterschiedliche Elemente: die klaustrophobische Angst vor dem Ungewissen und die unstillbare Sehnsucht nach Entdecken und Verbergen. Grosse Teile dieses Hauses wurden nun von Reyth (auch Geburtsort von Goebbels) nach Venedig gebracht, um da im Deutschen Pavillion, der aus der Nazi-Zeit stammt, wieder aufgebaut zu werden. Ein kleinbürgerliches Haus wurde also in diese faschistische Repräsentationsarchitektur aus dem zweiten Weltkrieg eingebaut und hat damit eine neue, drastische Dimension erhalten: Eine häusliche Welt im Schosse einer diktatorischen Repräsentation. Eine Art Wiederaufbau unter dem Dach der Zerstörung. Man denkt an all die Schlupflöcher der Juden, die sich vor den Faschisten versteckten. Man denkt aber auch an das Foltern von Andersdenkenden, die in unerträglichen Räumen schmorten.

Diese grosse, gesellschaftspolitische Dimension aber ist in diesem Werk, das Schneider vor ungefähr fünfzehn Jahren begonnen hat, nicht inhärent. Sie ist vielmehr durch diese ungewöhnliche Verschiebung entstanden. Dies scheint mir doppelt interessant zu sein, weil es sozusagen auch zeigt, wie sich Künstler und Kurator gegenseitig optimieren und präzisieren können. Erst der Entscheid des deutschen Kommissärs Udo Kittelmann, Gregor Schneider mit seinem Haus in das Haus Hitlers einzuladen, hat dazu geführt, dass aus einer intimen, hermetischen und das Spektakel des Suspense bedienden Arbeit eine brisante, gesellschaftliche, visuelle Fragestellung geworden ist. Dieser Umstand wird zusätzlich durch das Faktum unterstützt, dass die Arbeit selbst kein Produkt des Kunstmarkts ist und im eigentlichen Sinne auch nie fertiggestellt sein wird. Sie ist kein Werk der Spekulation und, im Unterschied zu vielen anderen Arbeiten mit gesellschaftspolitischer Absicht auf der Biennale, nicht Gegenstand einer unmittelbaren materiellen Wertschöpfung.

Maurizio Cattelans (*1960) greiser, polnischer Papst Karol Woityla wird auf Szeemanns ‹Plateau der Menschheit› zwischen zwei riesigen Öltanks und auf rotem Teppich von einem Meteoriten getroffen. Das ‹unfehlbare›, katholische Oberhaupt ist einer höheren (in ‹Wirklichkeit› physikalischen) Macht zum Opfer gefallen, während die Umwelt belastenden, fossilen Brennstoffe im Tank und der rote Teppich unberührt bleiben.

Cattelans Arbeit ist perfekt inszeniert – suggestiv, provokativ, ein wenig kitschig, mit scheinbarem Happy-End – und wird nur durch seine ‹eigene›, in Originalgrösse aufgestellte Kopie des berühmten ‹Hollywood›-Schriftzugs aus Los Angeles auf einem Hügel bei Palermo (einer Aussenstation der diesjährigen Biennale) übertroffen. Man muss da speziell hinjetten, will man ihn wirklich sehen. Das sizilianische Leben, die Mafia ist in Hollywood Film geworden und nun endlich zurückgekehrt, um Kunst zu werden. Vielleicht dürfen wir für die nächste Venedig-Biennale nach Las Vegas reisen, während Siegfried und Roy in Venedig gastieren…

Das Video und sein Enviroment Niemals zuvor auf einer Biennale dominierte Video so stark. Andauernd schob man Vorhänge zur Seite und tapste durch dunkle
Gänge, um das Licht der Projektion zu erblicken. Der schwarze Raum ist endgültig zum Standard der Kunstrezeption geworden. Doch einige Künstler versuchen, sich von dieser Präsentationsform zu lösen. Stan Douglas, Douglas Gordon oder Doug Aitken brachen in den letzten Jahren schon ständig den ein-Raum-ein-Beamer-Aufbau durch mehrere frei schwebende Projektionsflächen. Doch auch hier wandelte man vorwiegend im Dunklen und das Environment war immer noch ein rein videobasiertes.

In Venedig versuchen jedoch einige Arbeiten, sich von der reinen Projektorebene zu lösen und ein Ambiente anzubieten, das wieder klarer im Bereich der Bildenden Kunst verankert ist.

Am deutlichsten zeigt dies der kanadische Pavillon mit dem ‹Paradise Institute› von Janet Cardiff (*1957) und Georges Bures Miller (*1960). In den Raum ist ein kleiner Kinosaal in doppelter Ausführung gebaut. Zunächst ein echter mit zwei Stuhlreihen, auf dem das Publikum wie in einer Loge Platz nimmt, um nun auf ein verkleinertes Modell eines Kinosaales zu blicken. Man legt die Kopfhörer an, das Licht geht aus und es ertönen Geräusche von Kinobesuchern auf der Suche nach ihrem Platz. Dies geschieht so naturalistisch, wie man es sich nur vorstellen kann. Der Film läuft an, und neben einem nimmt geräuschvoll jemand Popcorn aus einer Tüte. Man weiss, dass man nicht zur Seite zu schauen braucht, da sitzt sowieso nur jemand, der auch einen Kopfhörer aufhat und auch überlegt, ob er jetzt vielleicht doch mal zur Seite schaut. So bleibt man fast bewegungslos sitzen, horcht in die Kopfhörer hinein, um den Ton des Filmes zu erfassen, der mit Versatzstücken arbeitet, die eine Story zwischen roadmovie, action und grosser Liebe andeuten. Projektion, Raum, Ton, alles verschmilzt zu einem noch nie gespürten artifiziellen Erlebnis.

Das Gefühl des Dabeiseins versucht auch Georgina Starr (*1968) zu vermitteln. Die riesige Projektion zeigt Models auf einem Laufsteg, die in Gefahr schweben von einer Horde Kinder in weissen plüschigen Kostümen ermordet zu werden. Und tatsächlich ziehen die Kinder ihre Waffen und richten ein brutales Gemetzel an. Es geschah offenbar genau auf jenem Laufsteg, der vor der Projektion aufgebaut ist und von einem kanonenartigen Strahler in blutrotes Licht getaucht wird. Die Leichen sind abgeräumt, aber die Fetzen der Kleidung, die verlorenen Schuhe, die Blutspritzer künden noch davon. Der Dokumentarfilm eines Ereignisses reizt mit der Fiktion, sich tatsächlich am historischen Ort aufzuhalten.

Ganz anders löst Pierre Huyghe (*1962) im französischen Pavillon den Bruch mit der herkömmlichen Projektionstechnik. Er versetzt den Betrachter in eine doppelte Modellsituation. Im Video zu sehen sind die Modelle zweier Hochhäuser, in deren qaudratischen Fenstern nach rhythmisch erscheinenden Regeln das Licht an und aus geht. Zunächst glaubt man, eine realistische Architektursituation zu sehen, bevor die verschiedenen Änderungen des Wetters und der Lichtverhältnisse einem zu sauber vorkommen, um echt zu sein. Gleichzeitig fällt der Blick rechts neben der Projektion durch eine Glasscheibe in den Nachbarsaal, in dem an der Decke ebenfalls weisse quadratische Lichtfelder aufblinken. Es handelt sich zwar um zwei eigenständige Arbeiten, aber die Verbindung von den Fenstern im Video zu den Lichtfeldern daneben ist doch dominant. Die Lichtfelder an der Decke stellen ein riesiges rudimentäres frühes Computerspiel dar, das von den Besuchern gesteuert wird. Die aufleuchtenden Fenster im Video wirken auch zufällig gesteuert. Mit jeder Vorführung wechselt zudem die Musik. Das Ambiente scheint reduziert zu sein auf die berühmten Computerzahlenketten aus Nullen und Einsen, entweder aus oder an, wenige oder viele. Die Hochhäuser werden zu kleinen kubischen Maschinen, die in einer grossen Maschine stecken. Der Betrachter sitzt nicht mehr vor einer Projektion, sondern in einem Environment, in dem er das letzte
realistische Element zu scheint sein.

Uomoduomo von Anri Sala Mit versteckter Kamera wurde er gefilmt, der Uomoduomo von Anri Sala (*1974). Unmittelbar fällt der Blick beim Betreten der Ausstellungskoje auf die grossprojizierte, vornübergesackte Gestalt. Da sitzt er alleine auf einer hölzernen Kirchenbank, der Mann, in seinem zugeknöpften Wintermantel. Er schwankt leise hin und her, versunken in eine eigene Welt, vom dämmrigen Licht des Raumes umfangen und gleichzeitig dem registrierenden Zugriff der Kamera preisgegeben. Was wäre, wenn er aufwachte und uns plötzlich anschaute?

Anri Salas fixe Kameraeinstellung lässt den gefilmten Realitätsausschnitt zum Bild werden, zu einem berührenden Porträt eines Unbekannten, über dessen Leben wir allerdings bloss Vermutungen anstellen können. Gerade weil jede klassische Erzählstruktur fehlt, weil nichts Dramatisches geschieht, läuft ein vielschichtiger Film im eigenen Kopf ab und ein Spekulieren und Fragen beginnt: Was treibt diesen Menschen in den Dom? Wo kommt er her? Wo will er hin?

Die filmische Nahaufnahme, in atmosphärischem Schwarzweiss gedreht, ist in ihrem Kern aber auch zwiespältig. Sie gibt einen Moment des Rückzugs – in den schützenden Kirchenraum und in die Selbstversunkenheit – dem voyeuristischen Blick preis. Oder ist es gerade diese Nähe des Kameraauges, welche ihn irgendwie unantastbar macht? Ist es gerade die Gleichgültigkeit und Ruhe des vor sich hin Dämmerns, welche den Uomoduomo vor jeglicher Vereinnahmung schützt?

Deimantas Narkevicius im Litauischen Pavillon Litauen präsentiert in seinem Pavillon ausserhalb der Gardini mit Deimantas Narkevicius (*1964) einen Vertreter der jüngeren Generation litauischer Kunstschaffender, deren Themen eng mit der Aufarbeitung der eigenen Geschichte im letzten Jahrhundert verknüpft sind, beziehungsweise mit der Auseinandersetzung mit der postsowjetischen Ära der letzten zehn Jahre.

Narkevicius zeigt drei neuere Arbeiten aus den Jahren 1999–2001: zwei Super-8-Filme in Videoformat und eine site-spezifische Lichtinstallation, basierend auf der Architektur des Pavillons. Narrative Grundstrukturen dominieren in beiden Projektionen. ‹Legend Coming True› erzählt aus der Sicht einer Überlebenden des
Zweiten Weltkriegs die Geschichte des Jüdischen Ghettos in Vilnius. Der extrem subjektive Zugang verweigert sich einer verabsolutierenden, verallgemeinernden Interpretation – und leistet dadurch einen Beitrag zur, so Narkevicius im Katalog, auch in Litauen lange unterbliebenen Auseinandersetzung mit dem Holocaust.

‹Energy Lithuania› schliesslich steht in Zusammenhang mit einem auch in andern Kontexten vermehrt wahrzunehmenden Interesse an modernistischem Design und Utopien der fünfziger und sechziger Jahre. Über die Erzählung eines Arbeiters in einem grossen Elektrizitätswerk in Litauen wird die Geschichte dieses Industrie-Monuments der kommunistischen und postkommunistischen Zeit dokumentiert. Momente wie Aufklärung und technologische Revolution werden im Spiegel ihrer wechselnden ideologischen Rahmenbedingungen thematisiert. Nicht zuletzt wegen dieser Arbeit gehört der litauische Pavillon zu den Highlights der diesjährigen Biennale: mit beeindruckender Klarheit – ohne zu polemisieren und ohne in Nostalgie umzuschwenken – geht Deimantas Narkevicius hier mit Schlüsselthemen wie nationaler Identität oder Erinnerung an Mythen der eigenen Geschichte um.

Keine neue Welle nicht-westlicher Kunst Anlässlich der 49. Biennale von Venedig vor zwei Jahren sorgte Harald Szeemann dadurch für Aufregung, dass er Werke von mehr als dreissig Künstlerinnen und Künstlern aus China präsentierte. Die italienische Presse fühlte sich provoziert, der Markt reagierte sofort, wie ein Gang über die wenige Tage später eröffnete Art Basel bewies, und Szeemann wurde von sich und anderen als Entdecker dieser Kunst aus dem fernen Osten gefeiert.

Wer nach der starken chinesischen Präsenz nun damit gerechnet hat, dass der Biennale-Kurator für seine aktuelle Inszenierung vielleicht verstärkt Positionen aus Afrika oder dem südlichen Amerika präsentieren werde, sieht sich getäuscht. Die grosse Woge mit Kunst aus Ländern der sogenannt nicht-westlichen Welt, die in den vergangenen Jahren manchen Ausstellungshafen in Europa erreicht hat, ist an Venedig vorbeigeschwappt.

Ein paar wenige Künstler haben es dennoch auf das ‹Plateau der Menschheit› geschafft. Sunday Jack Akpan (*1940) aus Nigeria zum Beispiel, der sich selbst als ‹Natural Authentic Sculptor› bezeichnet und schon 1989 im Rahmen der Pariser ‹Magiciens de la Terre› seine stark farbigen Betonfiguren zeigte. Mitten in den Corderie treffen wir auf seinen ‹Chief›, eine lebensgrosse Thronfigur. In dieser Umgebung aus Videokabinen und smarten Konzeptarbeiten allerdings wirkt die Plastik wie ein bunter Vogel, handwerklich und ein wenig geheimnisvoll, exotisch eben – so wie man das von einem afrikanischen Künstler erwartet. Weniger auffällig sind da schon die Arbeiten der beiden Videodamen aus Südafrika: Tracey Rose (*1974) hat mittels einer dreifachen Projektion eine Bankettszene mit bizarren Figuren arrangiert, die seltsame Botschaften an die Menschheit abgeben – eine Art Commedia
dell’Arte. Und in den am Computer generierten Videoanimationen von Minnette Vári (*1968) formen Frauenkörper immer wieder neue heraldische Zeichen.

Der gewichtigste Beitrag aus dem südlichen Amerika stammt von dem Brasilianer Ernesto Neto (*1964): In den Artiglerie hat er ein märchenhaft schwebendes Gewölbe aus Strümpfen konstruiert, aus dem phallusförmige Gebilde herabbaumeln, die mit kiloweise gemahlenen Gewürzen gefüllt sind. Dass mehr oder weniger identische Arbeiten von Ernesto Neto schon an den verschiedensten Orten in Europa zu sehen waren, tut dem geruchlichen Erlebnis keinen Abbruch, der Originalität vielleicht schon.

Unter den Beiträgen aus dem fernen Osten hinterlässt die Arbeit des Japaners Tasumi Orimoto (*1946) wohl den stärksten Eindruck: Er hat sich entschlossen, sich um seine an Alzheimer erkrankte Mutter zu kümmern und sucht nach neuen Formen, mit ihr zu kommunizieren. Mal bindet er sich selbst Brote um den Kopf, mal steckt er seine Mutter in überdimensionierte Kinderschuhe oder legt ihr Autoreifen um den Hals – es ist auch Verzweiflung, die da Gestalt angenommen hat. Ebenso komplex sind die Werke des Chinesen Hai Bo (*1962): In aufwändiger Recherchearbeit stellt er Fotos aus der Zeit der Kulturrevolution nach. Er sucht die Arbeiter oder Soldaten auf, die damals im Rahmen von Gruppenfotos abgelichtet wurden und bringt sie, soweit möglich, in derselben Umgebung erneut zueinander – oft sind einzelne Protagonisten unterdessen verstorben, in anderen Fällen hat sich die Landschaft arg verändert oder es sind die Gesichter, die sich verhärtet haben.

Klein und gross: A1-5316 und Gregor Schneider Klein: Eine wirklich kleine Fotoserie von einem Künstler aus Guatemala mit dem unaussprechlichen Namen A1-53167 alias Aníbal Asdrubal López Juárez (*1964). Die Arbeit trägt den Titel 30 de Junio und zeigt eine Militärparade, die jährlich stattfindet. Sieht eigentlich alles ganz gewöhnlich aus, die vorbeimarschierenden Soldaten mit Gewehren, leicht feindlich und grimmig. Nur befindet sich ein dunkler Fleck auf dem Asphalt, der irgendwie die Parade versaut, weil ich weiss, dass in der Nacht vorher ein paar Leute eine Ladung Kohle auf der Strasse abgeladen haben. Diese subversive Aktion ist auf bescheidenen, von der Qualität her nicht wahnsinnig guten Fotos zu einer Serie zusammengefasst worden und erzeugt für mich gerade deswegen eine grosse Wirkung. Die Militärparade wird vor meinen Augen demontiert, weil ich etwas weiss, was die Soldaten nicht wissen, und so dem Ganzen eine kleine anarchistische Kraft verpasst wird.

Gross: Der deutsche Pavillion mit dem Beitrag von Gregor Schneider (*1969), weil er mal so richtig die Architektur dieses deutschen Vorzeigehäuschen dedramatisiert und dekonstruiert hat. Dies im konsequenten Stil: Die inwändig gebauten Räume seines importierten Privathauses aus Rheidt sind physisch begehbar, man muss sich beklemmend, beängstigend und neurotisch durch die Räume bewegen. Solche Wohnungen kennt man aus Deutschland und nun werden sie noch einmal überphobisch labyrinthisch wiedergegeben. Ich fühle mich wie ein Riese, kriege schwitzende Hände und muss sofort wieder raus. Wieder draussen vor dem prahlenden klassizistischen Bau erhält die Arbeit Schneiders eine enorme Qualität durch die Komplexität von aussen bzw. innen, man hat sich zwar gerettet aber weiss nun, wo und wie der Horror schlummert.

Moeslang/Guhl in der San Stae Seit 1990 wird die barocke Kirche San Stae während der Biennale von jüngeren und/oder noch nicht so etablier-ten Schweizer Künstlern bespielt. Nach Adrian Schiess schlossen sich 1993 Christoph Rütimann, 1995 Christian Marclay und 1997 Urs Frei an. In diesem Jahr wurde von der Eidgenössischen Kunstkommission überraschend ein bis anhin kaum bekanntes St. Galler Künstlerpaar ausgewählt.

Norbert Moeslang (*1952) und Andy Guhl (*1952), eher aus der Musikszene als elektromagnetische Geräuschemixer, als ‹Voice Crack› bekannt, nutzen die Kirche ausschliesslich als Klangraum. Von einer grossen, wie ein Kleinod mitten im Kirchenschiff platzierten Musikapparatur und sechs symetrisch aufgereihten Boxen werden befremdliche, immer neu überraschende Kompositionen ausgesandt. Einmal hüllt ein an Autobahnen erinnerndes Rauschen das ganze Kirchenschiff ein, dann wieder gibt es ein Nebeneinander unterschiedlicher Klänge zu hören. Ab und zu tritt eine von glucksenden Wasserlauten unterbrochene Stille ein und spätestens dann wird man an den Canale Grande vor der Kirchentür erinnert. Moeslang/ Guhl haben ein Hydrofon (Unterwassermikrophon, das Druckwellen in Spannung übersetzt) ins Wasser gehängt, und von dort werden Geräusche ins Kirchenschiff übertragen. Was wie eine hohe durchgehende Linie klingt, wird als das durchfahrende 82er Vaporetto enthüllt und ein Ton wie ein Möwenschrei stellt sich als das unsanfte Anlegen des Vaporetto Nr. 1 heraus. Allerdings funktioniert diese Toninstallation nicht rein dokumentarisch, die Künstler nehmen durch eine eigens entwickelte Software zusätzliche kompositorische Manipulationen vor. – Vergleicht man die ‹Musik› von Moeslang/Guhl – übrigens eine der ganz wenigen auf Venedig bezogenen Arbeiten – mit anderen, an dieser Biennale gezeigten Soundinstallationen wie beispielsweise der von Granular=Synthesis im österreichischen Pavillon, so könnte der Unterschied kaum grösser sein. Überwältigen die Österreicher mit bis an Grenzen gehenden Vibrationen, die den umgebenden Pavillon und auch den eigenen Körper zu zerstören scheinen, so erzählen die Schweizer bilderreiche, poetisch befremdliche Geschichten.

Mark Manders und Tracey Rose: Nach-Erzählungen Während das ‹Plateau der Menschheit› – rein semantisch irgendwo zwischen Hochebene und Präsentierteller gelegen – eine episch grosse Linie beschreibt, entspinnen sich, wie blinde Passagiere im riesigen Frachtraum, versteckt und irreduzibel die vielen kleinen Geschichten. Zum Beispiel Mark Manders’ (*1968) Skulptur im italienischen Pavillon: Eigentlich zeigt sie eine Installation aus Objekten, die in den Status eines Modells auf 88% reduziert sind. Wie zwischengelagert unter einer Plexihaube und auf palettartigem Sockel, liegt das kleine nachtschwarze Plateau, eine Landschaft mit vertrauten Gegenständen, die nur der feine schwarze Faden traumartig zu einer offenen Kette von Assoziationen verbindet. Manders Denken kreist seit Jahren um ‹Selfportrait as a building›. Jedes Objekt, auch die grösseren Installationen im holländischen Ca’ Zenobio in Dorsoduro, ist eine weitere Projektion seiner Selbstbiografie, die sich in Partikel auflöst.

Oder dann: Tracey Rose’s (*1974) Video-Travestie von Leonardos Abendmahl. Auf einer digital fragmentierten Bühne wiederholen sich Bruchstücke einer Erzählung über weibliche Stereotypen zwischen Domina und Schattengestalt, mit harten Schnitten, schrillen Farben und aufdringlich blinkenden Flashes. In Metropolen wie Johannesburg sind neue Mischformen der Narration
entstanden, die das lange Filmepos des Arsenale aufbrechen.

Vaut le Voyage: Luc Tuymans ‹Mwana Kitoko› Empathie – ein neuer Begriff kursiert
dieser Tage in der Kunstwelt. Gemeint sind Anteilnahme und Einfühlungsvermögen, Offenheit für die Anliegen anderer, kurz ein Interesse an all dem, was die weissen Westen von uns übersatten Wohlstandsbürgern unschön befleckt. Soziale Ungerechtigkeit und politische Verantwortung sind wieder vermehrt in den Fokus des internationalen Kunstgeschehens geraten. Kuratoren und Künstler geben sich gerne gesellschaftspolitisch engagiert – erstere holen Kunst aus weniger privilegierten Ländern, die zweiten thematisieren eine problemdurchzogene Welt. Dass die im Zuge der Globalisierung neu erwachte Moral nicht selten zur Doppelmoral gerät, die empatische Geste mithin genau jene imperiale Haltung zum Ausdruck bringt, die zu überwinden man eigentlich angetreten ist, das führt uns der belgische Maler Luc Tuymans (*1958) mit einer Eindrücklichkeit vor Augen, die ihresgleichen sucht. Inhaltlich orientiert sich das Bilderensemble, das er im Belgischen Nationalpavillon inszeniert hat, an der kolonialen Vergangenheit seines Landes. Wie verblassende Fotografien wirken seine mit präzisem Kalkül gemalten Bilder. Der belgische König in weisser Marineuniform, ein afrikanischer Politiker, Leopardenfelle, ein ausgestopftes Nashorn in der Museumsvitrine – unterkühlt und grandios zelebriert Tuymans seine malerische Könnerschaft, strapaziert die Spannung zwischen Bildreiz und problemorientiertem Subtext aufs Höchste.

Die Bildinhalte verblassen ob der verführerischen Effekthaftigkeit dieser Malerei. Die angesichts einer problemdurchzogenen Welt offensichtlich unzulänglichen Mittel entsprechen unserem eigenen Unvermögen zu tatsächlicher Anteilnahme. ‹Mwana Kitoko› von Luc Tuymans erzeugt ein diffuses Unbehagen und damit eine Betroffenheit, die nachhaltiger nicht sein könnte.

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Ausgabe: 07 / 2001
Ausstellung: Biennale (10.06.2001 - 04.11.2001)
Institution: La Biennale di Venezia (Venezia)
Autor/in: René Ammann
Künstler/in: Francis Alÿs , Gregor Schneider , Maurizio Cattelan , Deimantes Narkevicius , Norbert Moeslang , Andy Guhl
Homepage: www.la-biennale.com

 

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