Ars Electronica 2010 zeichnet ein düsteres Gesellschaftsbild und sucht nach Lösungen
Die Ideologie des Reparierens
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Die Produktionshallen der "Tschickbude" werden in diesem Jahr zum Zentrum des Festivals. Foto: Urbanek
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Von Julia Urbanek
Die Ars Electronica findet heuer von 2. bis 7. September statt.
Die stillgelegte Linzer Tabakfabrik wird zum Zentrum des Festivals.
Linz.
In der hunderte Meter langen Produktionshalle mit ihren großen Fenstern
hängt der Duft von Tabak, man glaubt ihn zumindest zu riechen. Es
scheint Jahre her zu sein, dass hier tausende Zigaretten pro Minute
hergestellt wurden, so leer und verwunschen sieht es aus.
Dabei herrschte in der Tabakfabrik Linz noch kürzlich rege
Betriebsamkeit: Erst im September 2009 wurde die Produktion
eingestellt, die Stadt Linz kaufte das Fabrikgelände danach vom
Eigentümer Japan Tobacco/Austria Tabak. Der größte Teil des
Industriegebäudes, 1930 bis 1935 nach Plänen von Peter Behrens und
Alexander Popp errichtet, ist denkmalgeschützt. Über die zukünftige
Nutzung der "Tschickbude", wie sie die Linzer nennen, wird in den
kommenden drei Jahren von einer eigenen Entwicklungs- und
Betriebsgesellschaft entschieden – bis dahin werden die einzigartigen
Räume für Kulturveranstaltungen genützt.
Konzerte am Fabriksgelände, Digitale Kunst in der Halle
Von 2. bis 7. September ist hier das Zentrum der diesjährigen Ars
Electronica unter dem Titel "repair – Sind wir noch zu retten?". Für
die Bespielung der fast 80.000 Quadratmeter Nutzfläche hat sich
Ars-Electronica-Leiter Gerfried Stocker Unterstützung geholt: Das
Offene Kulturhaus wird seine jährliche "Cyber Arts"-Ausstellung in der
Tabakfabrik stattfinden lassen, das Brucknerhaus veranstaltet Konzerte
am Fabrikgelände, die Kunstuniversität wird sich hier kurzfristig
niederlassen. Man befasst sich mit Zukunftsutopien, der Zeit nach
Klimakrise, Bankenpleite und Überwachungsgesellschaft und sucht nach
Lösungen.
"Es geht ans Eingemachte", erklärt Gerfried Stocker im Gespräch mit
der "Wiener Zeitung": "Wir sollten uns nicht mehr darauf verlassen,
dass bald wieder etwas erfunden wird, das uns alle rettet – man sollte
den Fokus darauf lenken, es selbst anzupacken. Und ich glaube, dass
Kunst dafür sehr gut geeignet ist. Kunst ist eine Form des
Untersuchens, des Verstehens, wie man mit Dingen umgeht."
Ars-Chef Gerfried Stocker. Foto: Urbanek
Die Flächen der Tabakfabrik, Produktionshallen, Lagermagazine und
Höfe, werden dabei auf verschiedene Arten genützt: als
Ausstellungsräume, für Symposien, elektronische Laptop-Konzerte und
Auftritte des Brucknerorchesters: "Wir werden aber nicht versuchen, aus
einer Fabrikhalle einen Vortrags- oder Konzertsaal zu machen und ihn
mit Stühlen vollstellen. Das Publikum soll sich auf diesen Ort
einlassen, das Ganze soll zu einem Training für den Paradigmenwechsel
werden." Ein Wechsel, der sich im Ausstellungsgebäude selbst vollzog:
vom Industriegelände, das Opfer der Globalisierung wurde, hin zum
Architekturjuwel und Kulturraum.
Kultur des Reparierens als neue Kunst-Ideologie
Vor allem aber ist es der Paradigmenwechsel in der Gesellschaft, der
die Ars Electronica 2010 beschäftigt: Stocker postuliert dafür die
Kultur des Reparierens als neue Ideologie. Ein gewagter Ansatz in einer
Welt, in der lieber weggeworfen, neuerfunden, neuproduziert, neugekauft
wird? "Das do-it-yourself, repair-it-yourself hat eine unheimliche
Kraft, es ist eine Selbstermächtigung", erklärt Stocker. "Wenn du dein
Auto oder deinen Computer selbst reparieren kannst, bist du unabhängig.
Wir sind in einer Phase, in der die Menschen wieder sensibel werden
dafür, wie wir uns diesen großindustriellen, kommerziellen
Vorstellungen ausgeliefert haben. Das Reparieren ist mehr als nur die
Handwerksfähigkeit, es wird zu einer Ideologie." Wir haben uns von
einer Wegwerfgesellschaft zu einer Recycling-Gesellschaft entwickelt,
"der nächste Schritt muss das Reparieren sein, damit man wirklich
ausbrechen kann aus dem Zyklus und Zwang der Konsumgesellschaft.
Reparieren heißt, dass man dem Ding einen neuen Wert gibt, man gibt ihm
eine Zukunftschance." Reparaturbedarf habe dabei auch unser
leichtfertiger Umgang mit Errungenschaften wie Privatsphäre und
Autonomie.
Machen Stocker dabei auch die Kommunikationstechnologien, derer sich
die Gesellschaft dabei bedient, Angst? "Wir dürfen uns nicht immer auf
Technologien ausreden, das ist ein Ablenkungsmanöver. Menschen haben
sie entwickelt, Menschen nutzen sie. Aber die Leichtfertigkeit, mit der
das geschieht, ist überraschend und erschreckend."
festival ars electronica
Printausgabe vom Donnerstag, 22. April 2010
Online seit: Mittwoch, 21. April 2010 16:46:00
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