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Kunstberichte
"Madness & Modernity": Das Wien Museum widmet sich Kunst und Wahn an der Wende zum 20. Jahrhundert

Auf der Leinwand ausgezuckt

Aus der Feder eines Patienten: Namenloses Porträt von Josef Karl Rädler aus dem Jahr 1906. Foto: privat

Aus der Feder eines Patienten: Namenloses Porträt von Josef Karl Rädler aus dem Jahr 1906. Foto: privat

Von Brigitte Borchhardt-Birbaumer

Aufzählung Was in Ausstellungen der 80er Jahre ästhetisch als "Traum und Wirklichkeit" glänzte, ist für Gemma Blackshaw schlicht klinischer Wahnsinn – wie er aus der Wiener Kunst um 1900 hervorblitzt. Präsentiert wird die Sichtweise der britischen Kunsthistorikerin dieser Tage im Wien Museum: Das Haus von Wolfgang Kos hat die Schau "Madness & Modernity" aus dem Londoner Museum für Medizingeschichte übernommen.

Hier heißt es nun wehmütig Abstand halten gegenüber der Seelenarchäologie von Sigmund Freud. Der Schau ist es mehr um das Körperliche denn Psychische zu tun. Nur folgerichtig, dass das Berühren der Freud-Exponate verboten ist: unter anderem Polster für die Couch des Meisters und einige seiner "dreckigen" Götterfigurinen.

Zum Anfassen sind auch die anderen hochkarätigen Exponate nicht: Sie stellen den Körper und seine Deformationen durch die Krankheiten in den Vordergrund, untersuchen dazu in einer Chronologie die Verbesserung der Krankenhäuser – vom "Narrenturm" der Josephinischen Zeit über Steinhof, entworfen von Otto Wagner, bis zu Josef Hoffmanns Sanatorium für großbürgerliche Kreise in Purkersdorf. Mehrere Themenabfolgen bringen Pathologie und Kunst in ein Nahverhältnis – oder versuchen mit Modellen der Gebäude und Anlagen, Instrumenten und Trimmstühlen, Wachspräparaten und Fotos die Anbiederung der Künstler an die Modekrankheit "Nervosität" (der überholte Begriff "Hysterie" wird vermieden) zu vermitteln.

Vielleicht, so legt die Schau nahe, waren Franz Xaver Messerschmidts grimassierende Köpfe ja allesamt weniger rätselhaft als der damaligen Sachlichkeit verschrieben: Schon Ernst Kris und Otto Kurz verbanden psychologische Wissenschaft und Kunst – 1938 wurden die beiden Gelehrten aus Wien vertrieben. In "Madness & Modernity" kommen sie als Ideengeber nicht vor.

Schiele als Fallstudie

Dafür wird der Wettbewerb von Oskar Kokoschka mit Max Oppenheimer, wer den eigentlich modernen, irrsinnigen Malstil erfunden hat, in einer Reihe von Porträts, beginnend mit Heinrich Mann und Ludwig von Janikowski, sowie im Katalog hervorgehoben. Maltechnisches Pinselzucken und Kratzen wie mit dem Skalpell – da schließt sich auch Egon Schiele mit seiner persönlichen Pathologie an, die sachlich hinterfragt wird. Hier ist Schiele weniger Objekt der Anbetung als eine Fallstudie – ein womöglich Traumatisierter durch den syphilitischen Vater.

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Edelmann im Zerrspiegel der Moderne: Ritter von Janikowski, wie ihn Oskar Kokoschka im Jahr 1909 porträtiert hat. Foto: Fondation Oskar Kokoschka/VBK Wien, 2010

Leider: Die Schau ist gegenüber London verkleinert, was nicht alle Punkte schlüssig macht. Dabei werden etwa die inszenierten Fotos von Schiele oder Damenporträts von Gustav Klimt ausgespart.

Am Ende sprechen die Bilder von Patienten – stille Werke hinter dem Aufschrei der Künstler, von denen ja nur Peter Altenberg wirklich Patient am Steinhof war. Adolf Loos und Kollegen hatten dem mittellosen Alkoholkranken mit einer Vorliebe für kleine Mädchen den Aufenthalt in der "weißen Stadt" gesponsert – wahrscheinlich, um ihn besuchen zu können und etwas hineinzuriechen, was dann nach 1945 Arnulf Rainer oder Peter Pongratz mit den Gugginger Künstlern weiterführten. Solche therapeutische Bilder sind hier aus der Feder von Josef Karl Rädler und Frau St. zu sehen; sie stammen aus der Sammlung von Hans Prinzhorn, der bereits im Jahr 1922 ein erstes Buch über Künstlerpatienten geschrieben hat.

Was letztlich bleibt, ist die Erkenntnis, dass sich die Moderne um 1900 als krank und krisenhaft inszenierte – eine Tatsache, die ihr nach 1938 zum Verhängnis wurde. Aber da liegt der wirkliche Unterschied für die Gäste aus London: Sie brauchen diese Mündung in die Katastrophe für die Kunst, Künstler und Wissenschafter nicht als Paradox beleuchten.

Aufzählung Ausstellung

Madness & Modernity – Kunst und Wahn in Wien um 1900
Gemma Blackshaw, Sabine Weber (Kuratorinnen)
Wien Museum
http://www.wienmuseum.at
Bis 2. Mai

Printausgabe vom Donnerstag, 21. Jänner 2010
Online seit: Mittwoch, 20. Jänner 2010 18:23:00

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