(SZ vom 24.12.2003) - Da ist er wieder: der
tote Punkt. Alle Jahre wieder stellt er sich pünktlich nach Truthahn
und Bescherung ein: Christ ist geboren, begleitet vom improvisierten
Bachkantatensound entstaubter Mollenhauer-Blockflöten, die Sternlein
funkeln, das Lametta auch, und es ist Frieden in der Republik. Satt
und müde vom Beschenktwerden ergänzen sich die lieben Verwandten zum
ödipalen Dreieck, erweitert um ein zusätzliches Familienmitglied,
das diesmal schweigen muss, denn „der Fernseher bleibt aus“.
Was tun? Vielleicht dies: das gute Buch, das gute Gespräch,
einmal mehr das Weihnachtsoratorium auf Konserve oder der Dia-Abend,
„weißt du noch, 1983, der Segeltörn um Elba?“. Tja. Für die
Nachgeborenen, die, obschon meist schon ausgewachsen, in der
Heiligen Nacht wieder zu Kindern mutieren, ob sie wollen oder nicht,
bliebe da noch eine andere heiße Adresse: die erste außerfamiliäre
Gemeinschaft, die sie sich selbst geschaffen haben, also die Clique.
Man sieht sich in der Dorfdisko, vereint im teen spirit vergangener
Jugend, wohl zu der halben Nacht.
Es ist seltsam: Kaum im
Schoß der Familie angekommen, haben die gar nicht so lieben Kleinen
keinen sehnlicheren Wunsch, als den biologischen Banden erneut zu
entsagen und auf Cappuccino-Kommune zu machen. In einer
vergleichsweise harmlosen Ablehnung der Sippenhaft vereint mit
ihresgleichen, hoffen sie auf Aufbruch, glühende Erleuchtungsmomente
im Kollektiv oder einfach auf den schnellen Kick. Man verspricht
sich Liberté, Egalité, Fraternité, wie anno dazumal.
Die
Teenie-Clique ist schließlich nur die pubertäre Vorstufe älterer und
ausgereifterer Gegenmodelle zur Keimzelle des Staates, zu
künstlichen Ersatzfamilien und Alternativgemeinschaften mit
Patchwork-Struktur, Bürgerschreck-Ästhetik, kollektiver
Zivilisationsflucht und eingebautem Glücks- und Erlebnisversprechen.
Vater, Mutter, Kommunarde
Und so bleiben
viele auch nach der Jugendzeit noch weiter auf der Suche, on the
road, freiwillig oder zwangsweise unbehaust, weil es Mode ist oder
weil man es den Alten mal so richtig zeigen will oder weil das
Private das Politische ist und man die kapitalistische Kleinfamilie
überhaupt für überholt hält.
Wo immer man sich dann seinem
Glück im Hier und Jetzt ein Gehäuse verschaffen will, in Kommunen,
Kadern, Künstlerkolonien oder einfach nur in der Studentenbude: all
diese künstlichen Wärmepole der jüngeren Vergangenheit eint die
sinnstiftende Gesellschaftsutopie des schnellen Weges zum Heil, zur
immerwährenden Toskana im Herzen sozusagen.
Das ist eben
jener utopische Ort, den die Familie nicht einmal mehr über den
Umweg touristischer Eskapaden zu erreichen vermag, weil sie an den
immer neuen Gestaden immer nur das altbewährte Muster bereitstellt:
Vater, Mutter, Kind.
Und so lässt man die Racker denn
ziehen, angsterfüllt zwar, aber äußerlich gelassen, weil sie sich
halt mal austoben müssen und weil sie ja doch meistens zurückkommen,
wenn auch zuweilen seltsam gekleidet. Es ist mit der Flucht aus
familiärer Geborgenheit ins utopische Paradies einer verschworenen
Ersatzgemeinschaft nämlich ein wenig so wie mit dem Hasen und dem
Igel.
Wo immer man sein Matratzenlager aufschlägt, schallt
es einem von Seiten der tradierten Machtstrukturen entgegen: Ick bün
all hier! Getrieben von Rilkes existenziellem Imperativ, „Du musst
dein Leben ändern“, kommen die erlebnishungrigen Novizen im
selbstgewählten Parnass an – und erkennen, dass nicht nur das Bett
bereitet ist, sondern auch noch jemand drinliegt, der sich dieses
Recht einfach nimmt, weil es ohne Chef selbst in der radikalsten
Libertinage nun einmal nicht geht.
Das ist dann meist die
erste alternative Gemeinschaftserfahrung: Immer ist da irgendein
Apostel oder Bußprediger, der bestimmt, wo’s lang geht. Dem
Vater-Sohn-Konflikt fürs Erste glücklich entronnen, konnten die
adoleszenten Weltflüchtlinge der offenen Gesellschaft es meistens
gar nicht eilig genug haben, ein Meister-Schüler-Verhältnis
einzugehen.
Von den literarischen Zirkeln und
Künstlerkolonien der vorvergangenen Jahrhundertwende bis hin zu den
Hippie-Kommunen der seligen Aufbruchsära in den Sechzigern war da
immer ein charismatischer Führer, der als quasigöttlicher
Ersatzvater in säkularisierter Zeit fungierte und mit gutem Beispiel
voranging – immer das Ziel der gemeinsamen Erleuchtung und Erlösung
vor Augen.
So war es dann auch zu Zeiten des Chefkommunarden
Otto Mühl und seiner anarchischen Kommune Friedrichshof in
Österreich, wo in den rauen, radikalen Tagen der frühen siebziger
Jahre das strenge Diktat vergemeinschaftlichten Besitzstandes,
zwanghafter Selbstentblößung und antibürgerlicher Polygamie
herrschte.
In Mühls Kommune asketischer Glatzköpfe, wo
Intellektuelle und Künstler der Zeit ein- und ausgingen, rasierte
man mit dem Haupthaar auch die letzten Merkmale familiärer Herkunft
ab – doch bald blühten, vom Big Brother Mühl eher geduldet als
unentdeckt, klassische Beziehungskisten in den Gemeinschaftsbetten
der vermeintlichen Gammelbrüder, und die Yuppies unter den
Kommunarden agierten höchst bürgerlich als erfolgreiche Makler in
München, von wo sie mit ihren BMWs dicke Geldbündel zum chronisch
finanzschwachen Friedrichshof brachten.
Am Bungeeseil der
Zivilisation
Nun würden sich die heutigen
Erlebnishungrigen am Bungeeseil der Zivilisation strikt dagegen
verwahren, derart rigide gegängelt zu werden. Sie werden ihren „Lord
of the Flies“, ihre „Animal Farm“ oder „The Beach“ schon gelesen
oder gesehen haben: Die kollektive Utopie jenseits ödipaler
Strukturen kann nur allzu schnell umschlagen in totalitären Terror.
Ihnen bieten sich mittlerweile raffiniertere
Vergesellschaftungsformen an, auf Hightech-Basis und
Leistungsprinzip gründend, also mitten im Schoß des bürgerlichen
Lebens.
Selbst die verkiffteste Drop-out-Kommune der
Hippiezeit, wo die Kindheit im Schlaraffenland am Ende der Welt ewig
dauern sollte, war schließlich auf die Müllcontainer der Supermärkte
und ein großzügiges Sozialamt angewiesen, und so ist es kein Wunder,
dass auch Ex-Kommunarde Rainer Langhans, der einst im Zentrum
Berliner Republikverachtung anno ’68 mit Uschi Obermaier auf sex
& revolution machte, inzwischen den Weg des Kapitals gegangen
ist und aus seinem Zicken-Harem eine Daily Soap gemacht hat.
Allüberall blühen Big-Brother-Container und Casting-Shows,
diese fernsehgerechten Schwundstufen alternativer Lebensformen. Den
Eltern der derart medial Initiierten, die sich diese Form der
Intimitätstyrannei antun, kann es ja nur recht sein, dass die
Kleinen streng unter der Obhut und Kontrolle der Big-Brother-Kameras
herumexperimentieren – so lässt sich gemütlich vom Fernsehsessel aus
begutachten, ob sie auch keinen Unsinn treiben.
Ehemalige
Kinderladengründer, die heute gerne Cocooning im Landhausstil
betreiben, könnten freilich traurig die Köpfe hängen lassen, wenn
sie sehen, wie der Nachwuchs sich Vater Staat in Gestalt des so
genannten Privatfernsehens an den Busen wirft. Sie hätten es ja
gerade noch geduldet, wenn ihre Kinder ihnen, ihrer Stadt, ihrem
Staat auf immer Lebewohl gesagt hätten: Das hatten sie ihnen
schließlich mit der Muttermilch mitgegeben, dass die Familie, diese
kleinste Einheit der Reproduktion, nur die Keimzelle des Staates
ist.
Und nun muss es für sie ein wenig so sein wie bei
Christi Geburt, wo es an der Krippe Jesu ja auch eine
patriarchalische Konkurrenz zwischen Nennvater Joseph und einer
höheren Instanz gegeben hat.
Sie sollen nicht traurig sein.
Wer einmal im Container war, der wird im nächsten Jahr bestimmt
wieder nach Hause kommen an Heilig Abend. Ganz bestimmt.
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