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Kulturhauptstadt 2010: Istanbul verpasst eine Chance

04.01.2010 | 18:18 | JAN KEETMAN (Die Presse)

Das Kulturjahr am Bosporus beginnt schlecht: Ein Wohnviertel der Roma und Sinti wird abgerissen, Künstler sind frustriert, Politiker haben das Sagen bei den Kulturprojekten.

Es gibt Städte, bei denen hat man, vielleicht zu Unrecht, den Eindruck, das letzte Kapitel sei schon geschrieben. Werden Paris, Florenz, Dresden je etwas anderes sein als Paris, Florenz, Dresden? Mit Istanbul ist das anders. Istanbul ist eine noch nicht zu Ende erzählte Geschichte. Konnte es einen besseren Einfall geben, als gerade so eine Stadt zur Kulturhauptstadt Europas 2010 zu machen, zusammen mit Essen und Pécs?

Dass Istanbul Kulturhauptstadt geworden ist, mag außer an den Vorzügen der Stadt aber auch etwas an einem mächtigen und zugleich dominanten Fürsprecher liegen. Der in Istanbul geborene Ministerpräsident Tayyip Erdo?an, der seine Karriere als Bürgermeister von Istanbul begonnen hat, betrachtet die Stadt noch immer als sein Nähkästchen – so sehr, dass er im Hubschrauber über ihr kreisend auch schon mal festlegt, wo denn die nächste Brücke über den Bosporus zu bauen ist.

 

Leitfaden: Die vier Elemente

Als Leitfaden für das Kulturjahr, das auf Istanbul zukommt, wurden die vier Elemente gewählt. Bis 20.März wird die Kultur der Erde gewidmet sein, und da der Boden Istanbuls zur Türkei gehört, steht Türkisches im Vordergrund, mit Ausstellungen zu türkischem Design, zum Osmanischen Reich, mit moderner östlicher Musik und Puppentheater. Dann soll die Luft Symbol für den spirituellen Reichtum sein. In diese Zeit, zwischen den zweiten und 16.Mai, fällt aber auch ein europäisches Festival der universitären Theatergruppen, für das sich Gruppen noch bis 22. Januar anmelden können.

Im Sommer, wenn in Istanbul hoffentlich nicht wieder die Wasserhähne versiegen, ist in der Kultur das Wasser dran. Künstler sollen sich auf Stegen und Flößen präsentieren. Der Herbst steht unter dem Zeichen des Feuers, der Erneuerung und Moderne. Dabei kann man auch auf die Leistungen der Bürgermeister bei der Modernisierung der Infrastruktur hinweisen.

Ein wenig wirkt es wie ein Vierjahresplan für die Kultur, schön verschnürt und mit dem Stempel „bunte Vielfalt“ versehen. Das ist kein Wunder, denn das Sagen im Vorbereitungskomitee haben die Vertreter des Staates; die Vertreter aus dem Bereich Kultur sind längst alle zurückgetreten und ihre Nachfolger dann ebenso. Außer Staatsdienern sind nur die Vertreter der Handels- und der Industriekammer geblieben.

Dazu kommen handfeste Skandale, sowohl was das Vorbereitungskomitee selbst betrifft, wie auch im Umgang mit dem kulturellen Reichtum der Stadt. Die Reste eines byzantinischen Kaiserpalastes mussten einem Erweiterungsbau des Hotels Four Seasons weichen, an der Stadtmauer wird mit Sulukule das weltweit älteste Viertel der Roma und Sinti erbarmungslos abgerissen.

 

Bewilligtes Geld nicht ausbezahlt

Von dem über einen Aufschlag auf die Mineralölsteuer für die Kulturhauptstadt eingesammelten Geldern werden allenfalls ein paar prominente Künstler etwas sehen, wie der Nobelpreisträger Orhan Pamuk, dem ein eigenes Museum zu seinem Roman „Museum der Unschuld“ finanziert wird. Andere Künstler haben sich erst gar nicht beworben oder wären froh, wenn sie es nie getan hätten – wie Nuri Kaya von der Gruppe „Blinde Fotografen“. Er hat ein Ausstellungsprojekt entworfen: Blinde machen mit Polaroid Aufnahmen in Istanbul und sprechen auf Band, warum sie gerade in dieser Situation fotografiert haben. Dazu hat Kaya 200 türkische Schriftsteller aufgeboten, die jeweils zu einem der Bilder einen Text schreiben. Vorgelesen werden die Texte dann wieder von Blinden.

Die Ausstellung „Ich schaue auf Istanbul mit meinen geschlossenen Augen“ passierte alle Genehmigungen, aber langsam. Nuri Kaya wurde bedeutet, er müsse das Projekt halt vorfinanzieren. Kaya arbeitete umsonst vier Jahre lang, verkaufte zwei Wohnungen, um hinterher zu erfahren, dass das Projekt zwar genehmigt sei, der Etat dafür aber gekürzt. Doch auch das bewilligte Geld, ca. 80.000 Euro, wird nicht ausbezahlt.

Zuletzt wurde Kaya von einem der Organisatoren von Istanbul 2010 angeboten, er solle die Ausstellung auf eigene Kosten machen; für den Sektempfang würde die Agentur sorgen. Von zwei anderen Projekten sagt Kaya, sie seien ihm schlicht gestohlen worden. Das gehe so: Ein Künstler reicht ein Projekt ein. Eine Zeit lang kümmert sich niemand darum und plötzlich komme jemand anders mit genau dem gleichen Projekt, bekomme den Zuschlag und viel Geld. Das sei auch vielen anderen so gegangen, sagt Kaya: „Der Künstler hat hier keine Rechte.“

Kaya ist mittlerweile finanziell am Ende. Er kann die Miete nicht mehr bezahlen, weiß nicht mehr, wie er seinen Lebensunterhalt bestreiten soll. Noch denkt er daran, seine Ausstellung vielleicht irgendwo zu machen: „Aber auf keinen Fall in Istanbul.“

Info: www.Istanbul2010.org


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