20/2004
Ein Seelenfischer Der Künstler Conrad Shawcross wird von der englischen Presse
gefeiert. Jetzt ist er in Deutschland zu sehen Langsam, ganz langsam dreht er sich, erst behutsam, dann immer
schneller, in seinem Käfig aus rostigem Hühnerdraht – wie ein wild gewordenes
Tier, das sich gleich aus der Gefangenschaft befreien wird. Ein merkwürdiges
Gebilde, dieser Torso aus Bolzen, Drähten, mit einem langen Arm aus Holzstreben
und einer Glühbirne, die so schnell herumwirbelt, dass sie mit ihrem Licht eine
fließende, kreisförmige Linie zieht. Die bleibt auch dann noch auf der Retina
zurück, als das hölzerne Kunstgeschöpf längst wieder still steht. „Das braucht noch ein bisschen, bis es das ist, was es sein soll“, sagt
Conrad Shawcross, der Künstler, und blickt angestrengt auf das noch unfertige
Gerät. Es steht erwartungsvoll im Raum, als suche es jemanden zum Spielen. Eine
Maschine, weil sie funktioniert, und irgendwie auch keine, da sie niemandem
nützlich ist, strahlt dieses Wirbelwerk eine für den jungen Briten inzwischen
unverkennbare Ästhetik aus: unverkleidete Strukturen aus hellem Holz, ächzende
Maschinenteile, die schwerfällig vor sich hin rotieren, Räder und Spulen, die
surren und knacken – Erfindungen, die an mittelalterliche Webstühle und
Fabrikungeheuer der Industriezeit erinnern und doch nicht zur Vergangenheit
gehören. Sie werden bewegt von der ewigen Frage nach der Darstellung von Raum
und Zeit. Und das gefällt der Kunstwelt: Das Debüt des 26-Jährigen in London im
vergangenen Jahr wurde überall gelobt, in der Szenezeitschrift Dazed &
Confused, im Kunstmagazin Art Review, sogar im konservativen
Daily Telegraph. Und jetzt sind seine Arbeiten auch erstmals in
Deutschland zu besichtigen, in der Münchner Galerie Bernd Klüser (bis zum 26.
Juni). Obwohl seine Werke so sperrig sind, hat Shawcross in England schon
manches verkaufen können. Der allgegenwärtige Charles Saatchi erwarb die
Installation The Nervous Systems für seine Sammlung, noch bevor sie für
Shawcross’ erste Soloshow in der schicken Westlondoner Entwistle Gallery richtig
zusammengebaut war. Ein riesiges, karussellartiges Gerät sind diese Nervous Systems,
eine Mischung aus einem Maibaum, einer Zeichnung von Leonardo da Vinci und
einer überdimensionalen „Spinning Jenny“, jener Spinnmaschine, mit der 1764 der
Erfinder James Hargreaves die englische Textilwirtschaft revolutionierte. Auch
hier spielt Shawcross mit Fragen der Zeit und ihrer Darstellung. Seit jeher gilt
das Spinnen als Metapher für Zeitverlauf und Lebensdauer, und so sind bei
Shawcross viele Verweise eingefädelt, auf das Spinnrad in
Rumpelstilzchen ebenso wie auf Clotho, den Spinner des Lebensfadens in
der griechischen Götterwelt. Die Wissenschaft habe ihn schon immer fasziniert, erzählt Shawcross. „Mich
interessiert, wie die Theorien aufeinander aufbauen, sich immer wieder
revidieren, und wie dabei eine gewisse Instabilität entsteht. Ich versuche etwas
von dieser Instabilität, aber auch eine gewisse Weisheit, in meine Werke
einzubringen, die in gewissem Sinne selbst reine Verirrungen sind.“ Zu den wissenschaftlichen Verirrungen gehört für Shawcross die Bedrohung der
natürlichen Einheit von Raum und Zeit durch den wissenschaftlichen Fortschritt.
Nicht mehr das natürliche Umfeld und die Jahreszeiten bestimmten das Leben der
Menschen, sondern eine streng lineare Zeit, mit der Zukunft geplant und
Vergangenheit vermessen werde. Auch in den Nervous Systems mündet das
Durcheinander am Ende in die geregelte Produktion eines Seiles und erinnert so
an die von Menschen bevorzugte lineare Wahrnehmung von Zeit. Ganz ähnliche Ideen verfolgt Shawcross auch mit Light Perpetual, dem
noch unfertigen Klappergestell: Aus dem Glutpunkt der Glühbirne wird mit
zunehmendem Tempo ein leuchtender Kreis – für ihn ein Beispiel dafür, wie das
Lineare vom Zyklischen überwunden wird. In einer Welt, in der Computer und Video
die Bilder immer stärker beschleunigen und der Wert einer Technik vor allem in
ihrer Rasanz gesehen wird, wirken die Ungetüme von Conrad Shawcross merkwürdig
altmodisch – und sorgen vielleicht gerade deshalb für so großes Aufsehen. Sie
sind ganz anders als die Blut- und Mistgeschöpfe, die seine Kollegen, die Young
British Artists, in die Welt setzen. Shawcross geht mit seinen Maschinen bewusst
einen eigenen Weg. Ein britischer Künstler, der ihn maßgeblich beeinflusst
hätte, will ihm partout nicht einfallen. Einzig die russischen Konstruktivisten
wie Naum Gabo und Antoine Pevsner, die in ihrem Realistischen Manifest
1920 die „kinetischen Rhythmen“ zu „Grundformen der Gefühle unserer Zeit“
erklärten, seien für ihn eine Art Inspirationsquelle. So wie sie lehnt er
jegliche Art der Verkleidung ab; und so wie deren Werke bekommt auch eine
Konstruktion wie Light Perpetual als kinetisches Kunstwerk ihre
räumliche Form nur, indem sie sich bewegt. Doch auch wenn er sich im Gestern gerne umsieht, kommt seine Kunst stets im
Heute an. Vor zwei Jahren zum Beispiel stattete er einen alten Ford Capri mit
zwei Angeln und einem Seilzug aus – und erzählte allen, das Auto stamme von der
ehemaligen Organisation Investigative Bureau Into the Location of the Human Soul
(IBLS), die im Himmel nach menschlichen Seelen gefischt habe. Noch heute kreuzt
Shawcross mit diesem Himmelsfahrwerk durch London, zur Belustigung der
Passanten.