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23.11.2002 - Ausstellung
Der pechschwarze Rabe, der aus der Feder fließt
Paul Flora: Zeichnungen 1938 bis 2002. Die größte je zusammengestellte Werkschau zeigt das Wiener Kunsthistorische Museum im Palais Harrach zum 80. Geburtstag in Medienpartnerschaft mit der "Presse". Ein Rundgang.
VON HANS HAIDER


Daß der nach Sprache und Habitus urtirolerische Paul Flora mit Künstlerfreunden in der (bettelarmen) Wiener Nachkriegsszene Feuerchen der Avantgarde entzündet hat, ist beinahe vergessen. 55 Jahre nach seiner ersten Wiener Ausstellung in der Neuen Galerie in der Grünangergasse kehrte Paul Flora zurück. Heuer am 29. Juni feierte er seinen 80. Geburtstag.

Ganz fort war er nie - obwohl die staatliche Albertina bisher nur 16 Flora-Zeichnungen sammelte. Friedrich Torbergs Monatszeitschrift "Forvm" belieferte Flora ebenso mit aktuellen Zeichnungen wie (1957 bis 1971) die Hamburger Wochenzeitung "Die Zeit". Die Galerie Würthle und später die Galerie Gerersdorfer blieben ihm als Residien treu. Zum 70. Geburtstag im Jahr 1992 widmete das Historische Museum der Stadt Wien dem auf der Hungerburg ob Innsbruck residierenden Tiroler eine Retrospektive.

Mit 240 Blättern, ausschließlich Zeichnungen, zwei Drittel davon aus dem Besitz des Künstlers, übertrifft nun das KHM im Palais Harrach sogar Floras bisher spektakulärste Ausstellung - sie wurde 1997 in der Bayerischen Akademie der Schönen Künste gezeigt.

Der Chronologie entlang präsentiert sich ein nach Strich und Schraffur unverwechselbares Lebenswerk. Die ersten Blätter: Triste Genreszenen aus Kaffeehäusern, aber auch die weltflüchtige Ruhe chinesischer Landschaftspoesie. Die jüngsten Federzeichnungen, viele davon leicht laviert: Traurige venezianische Masken, Marionetten, Einzelgänger im Schnee.

Im Blatt "Die allgemeine Weitergabe der Dummheit" (2001) beugen sich zwölf Kannen-Männer über Kannen-Kinder und lassen in diese ihren Kannenschwall überfließen. Im "Stilleben mit Schere und Figur" (ebenfalls 2001) schwebt ein übergroßes Mordinstrument über einem verschüchterten Herrn mit hohem Hut. Droht nur der Kopfbedeckung Gefahr - oder auch dem unter einem Umhang versteckten Hals?

In der großen Zusammenschau wird deutlich, wie selten Paul Flora erzählt, obwohl er so oft unterm Etikett literarischer Zeichner einsortiert wird. Mit seinen stetig wiederkehrenden Sinnbildern, Allegorien, ja Emblemata hat er sich in der Philosophie, Abteilung Existenz-Bespiegelung, häuslich niedergelassen.

Sein Haus-Tier ist der Rabe, auf manchen Zeichnungen französisiert als Monsieur Corbeau. Und wer nicht schon früher zu Edgar Allan Poes berühmtem Gedicht "The Raven" (1845) gefunden hat, stößt in der Ausstellung auf ein Blatt aus dem Jahr 2000 mit Poes Porträt samt schwarzem Federtier.

Dieser Rabe heißt bei Poe "Nimmermehr" (Nevermore)und symbolisiert eine Blockade, aus der es kein Nach-vorne und kein Zurück gibt. Dieser Vogel frißt tote Artgenossen, ist schon im Buch Genesis als unzuverlässiger Kundschafter Noahs übel beleumundet, war schon in der Antike als Unglücksbringer und Teufelsbegleiter gefürchtet - kann aber so dressiert werden, daß er ein paar Wörter spricht. Paul Floras Nähe zu Alfred Kubin ist nicht nur aus seiner Biographie bekannt.

Zu den Nachtmahren des frühen, besten Kubin finden sich bei Flora Verwandte. Auch die ausgelassensten venezianischen Aufmärsche von Pulcinellen sind als Memento zu lesen: Finita la commedia! Flora stieg auf zum veritablen Volkskünstler, dessen Druckgraphiken und Bücher früh in Arbeiterwohnzimmer und Studentenbuden vorgedrungen sind: Weil er für die erlebten Schrecken der Kriegsjahre - ein Paradox! - phantastisch ablenkende, dabei aber illusionslose Bilder gefunden hat.

Ob Tiroler in Schützenmontur, ob Napoleon auf dem Rückzug aus Rußland: Militärs sind Klappergestelle. Dichter ertrinken in Buchstabenmeeren, Wagner-Heroinen platzen aus den Kostümen. Vermummte posieren in Venedig. Auf New Yorks Wolkenkratzerlandschaft ist Floras Geburtsstädten Glurns deponiert als Architectura caelestis. An einer Ecke sitzt "Godot, auf uns wartend".

Bis 12. Jänner tägl. 10 bis 18 Uhr, Führungen: Do. 11 Uhr, So. 15 Uhr.



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