Daß der nach Sprache und Habitus urtirolerische Paul
Flora mit Künstlerfreunden in der (bettelarmen) Wiener Nachkriegsszene
Feuerchen der Avantgarde entzündet hat, ist beinahe vergessen. 55 Jahre
nach seiner ersten Wiener Ausstellung in der Neuen Galerie in der
Grünangergasse kehrte Paul Flora zurück. Heuer am 29. Juni feierte er
seinen 80. Geburtstag.
Ganz fort war er nie - obwohl die staatliche Albertina
bisher nur 16 Flora-Zeichnungen sammelte. Friedrich Torbergs
Monatszeitschrift "Forvm" belieferte Flora ebenso mit aktuellen
Zeichnungen wie (1957 bis 1971) die Hamburger Wochenzeitung "Die Zeit".
Die Galerie Würthle und später die Galerie Gerersdorfer blieben ihm als
Residien treu. Zum 70. Geburtstag im Jahr 1992 widmete das
Historische Museum der Stadt Wien dem auf der Hungerburg ob Innsbruck
residierenden Tiroler eine Retrospektive.
Mit 240 Blättern, ausschließlich Zeichnungen, zwei
Drittel davon aus dem Besitz des Künstlers, übertrifft nun das KHM im
Palais Harrach sogar Floras bisher spektakulärste Ausstellung - sie wurde
1997 in der Bayerischen Akademie der Schönen Künste gezeigt.
Der Chronologie entlang präsentiert sich ein nach Strich
und Schraffur unverwechselbares Lebenswerk. Die ersten Blätter: Triste
Genreszenen aus Kaffeehäusern, aber auch die weltflüchtige Ruhe
chinesischer Landschaftspoesie. Die jüngsten Federzeichnungen, viele davon
leicht laviert: Traurige venezianische Masken, Marionetten, Einzelgänger
im Schnee.
Im Blatt "Die allgemeine Weitergabe der Dummheit" (2001)
beugen sich zwölf Kannen-Männer über Kannen-Kinder und lassen in diese
ihren Kannenschwall überfließen. Im "Stilleben mit Schere und Figur"
(ebenfalls 2001) schwebt ein übergroßes Mordinstrument über einem
verschüchterten Herrn mit hohem Hut. Droht nur der Kopfbedeckung Gefahr -
oder auch dem unter einem Umhang versteckten Hals?
In der großen Zusammenschau wird deutlich, wie selten
Paul Flora erzählt, obwohl er so oft unterm Etikett literarischer Zeichner
einsortiert wird. Mit seinen stetig wiederkehrenden Sinnbildern,
Allegorien, ja Emblemata hat er sich in der Philosophie, Abteilung
Existenz-Bespiegelung, häuslich niedergelassen.
Sein Haus-Tier ist der Rabe, auf manchen Zeichnungen
französisiert als Monsieur Corbeau. Und wer nicht schon früher zu Edgar
Allan Poes berühmtem Gedicht "The Raven" (1845) gefunden hat, stößt in der
Ausstellung auf ein Blatt aus dem Jahr 2000 mit Poes Porträt samt
schwarzem Federtier.
Dieser Rabe heißt bei Poe "Nimmermehr" (Nevermore)und
symbolisiert eine Blockade, aus der es kein Nach-vorne und kein Zurück
gibt. Dieser Vogel frißt tote Artgenossen, ist schon im Buch Genesis als
unzuverlässiger Kundschafter Noahs übel beleumundet, war schon in der
Antike als Unglücksbringer und Teufelsbegleiter gefürchtet - kann aber so
dressiert werden, daß er ein paar Wörter spricht. Paul Floras Nähe zu
Alfred Kubin ist nicht nur aus seiner Biographie bekannt.
Zu den Nachtmahren des frühen, besten Kubin finden sich
bei Flora Verwandte. Auch die ausgelassensten venezianischen Aufmärsche
von Pulcinellen sind als Memento zu lesen: Finita la commedia! Flora stieg
auf zum veritablen Volkskünstler, dessen Druckgraphiken und Bücher früh in
Arbeiterwohnzimmer und Studentenbuden vorgedrungen sind: Weil er für die
erlebten Schrecken der Kriegsjahre - ein Paradox! - phantastisch
ablenkende, dabei aber illusionslose Bilder gefunden hat.
Ob Tiroler in Schützenmontur, ob Napoleon auf dem Rückzug
aus Rußland: Militärs sind Klappergestelle. Dichter ertrinken in
Buchstabenmeeren, Wagner-Heroinen platzen aus den Kostümen. Vermummte
posieren in Venedig. Auf New Yorks Wolkenkratzerlandschaft ist Floras
Geburtsstädten Glurns deponiert als Architectura caelestis. An einer Ecke
sitzt "Godot, auf uns wartend".
Bis 12. Jänner tägl. 10 bis 18 Uhr, Führungen: Do. 11
Uhr, So. 15 Uhr.
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