Ein Freiraum für Kreative
Gleich neben der Eingangstür stehen fünf Tische mit Nähmaschinen, auf der anderen Seite des 80 Quadratmeter großen Raums rumpeln Tag für Tag drei Waschmaschinen. Sie sind gefüllt mit den Jeansstoffen, von denen sich riesige Ballen an den gelb und pink gestrichenen Wänden stapeln. Mittendrin sitzt Mike und liest Kunden-Mails. Seit knapp einem Jahr produzieren und verkaufen die Gebrüder Stitch, Michael „Mike“ Lanner und sein Kollege Moriz Piffl, in diesem Atelier nachhaltige, maßgeschneiderte Jeans. Die beiden hatten Glück: Sie haben sehr schnell ein Atelier zum Arbeiten gefunden. Denn für viele andere kreative Köpfe gestaltet sich die Suche nach einem Arbeitsraum äußert schwierig.
Freie Räume gibt es zwar, doch als Ateliers eignen sich die wenigsten. Davon kann Andreas Fischbacher ein Lied singen. Als er sich vor einigen Jahren professionell der Malerei zuwandte, wurden ihm die eigenen vier Wände zum Arbeiten zu eng und er machte sich auf die Suche nach einem geeigneten Platz. Einmal, erzählt er, wurde ihm ein alter Lagerraum angeboten. Fließwasser, mit dem er seine Pinsel hätte reinigen können, gab es dort nicht. Geschweige denn eine Toilette.
Wie Andreas Fischbacher geht es vielen Kunstschaffenden: Selbst wenn die Wohnung groß genug zum Arbeiten wäre, wollen viele Künstler ihre Arbeit vom privaten Lebensraum trennen. Außerdem mangelt es zu Hause an Möglichkeiten, sich mit anderen auszutauschen. Vor allem jungen Künstlern fehlen oft die finanziellen Mittel für ein geeignetes Atelier. Bezahlbare Ateliers sind dann oft klein, feucht und weisen eine schlechte Infrastruktur auf. Nicht selten werden Kellerräume als Arbeitsräume vermietet, die keinen Wasseranschluss haben. Sanitäranlagen sind ohnehin Mangelware.
Wer in Wien ein Atelier sucht, hat nicht viele Möglichkeiten: Vereinzelt vermieten Privatpersonen Räume zur Ateliernutzung. Das Kulturministerium vergibt alle vier Jahre Ateliers an bildende Künstler, doch gehen viele Bewerber um die nur 20 Ateliers in Wien und die 50 Ateliers im Ausland leer aus. Auch die Stadt Wien vergibt gemeinsam mit Wiener Wohnen Ateliers. Von den rund 350 Ateliers in städtischen Wohnhausanlagen sind zurzeit aber nur zwölf frei. Drei Euro pro Quadratmeter kostet hier die reduzierte Miete in den ersten fünf Jahren, als Starthilfe sozusagen. Danach wird der Preis angehoben. „Wenn es auf dem freien Markt mehr kostengünstige Ateliers gäbe, wäre das wünschenswert“, sagt die Pressesprecherin von Kulturstadtrat Andreas Mailath-Pokorny, Renate Rapf.
Da wirkt der Ort, an dem vor ein paar Jahren Andreas Fischbacher und vergangenes Jahr auch die Gebrüder Stitch eine kreative Heimat gefunden haben, fast wie eine Insel der Seligen: Das privat initiierte Projekt „Kunstquartier“ ist in Österreich einzigartig. Es handelt sich dabei um zwei von Gabi Dirnbacher betriebene, ehemalige Firmengebäude, deren leer stehende Büroräume in Künstlerwerkstätten umgewandelt wurden. In Metropolen wie New York ist diese Art, Kreativstätten zu schaffen, seit Jahrzehnten etabliert. In Wien hatte erst Gabi Dirnbacher im Jahr 2003 die Idee, das leer stehende Firmengebäude ihres einstigen Familienunternehmens in Meidling in Atelierräume umzugestalten. „Beim Anblick der leer geräumten Büroräume ist mir die Idee gekommen, dass diese sich wundervoll als Künstlerateliers eignen würden“, sagt sie. Sie habe immer schon eine Affinität zur Kunst gehabt, erzählt sie, und das 3500 Quadratmeter große Gebäude habe alle Voraussetzungen für Ateliers erfüllt: Es gab ausreichend Licht, auch elektrische Installationen und sanitäre Anlagen waren von vornherein vorhanden. Mieten können die Ateliers im Kunstquartier ausschließlich Künstler, Büroräume sind nicht vorgesehen. Von Instrumentenbauern über Maler, Video-Producer und Designer bis hin zu Kunstpädagogen arbeiten Vertreter aller denkbaren Kunstrichtungen im Kunstquartier.
Gabi Dirnbacher ist quirlig und selbstbewusst. In ihrer Rolle als Ateliervermieterin geht sie voll auf. „Ich habe viel von den Künstlern gelernt“, sagt sie. Darum setze sie der Kreativität ihrer Mieter auch keine Grenzen. „Die Künstler können die Räume frei gestalten, sie müssen auf nichts aufpassen und können die Räume dann auch so individuell gestaltet wieder zurückgeben, wenn sie ausziehen sollten.“ Besonders wichtig ist es für sie auch, auf die speziellen Bedürfnisse der kreativen Mieter einzugehen, „denn ich habe Verständnis dafür, dass viele Künstler finanzielle Sorgen haben, gerade in Krisenzeiten“, sagt sie. Im Atelierpreis sind daher alle Kosten inbegriffen und werden jahrelang konstant gehalten.
Auch Gabi Dirnbacher machte in den sieben Jahren, die sie nun schon Ateliers vermietet, die Erfahrung, dass es für Künstler nicht einfach ist, geeignete Räume zum Arbeiten zu finden. Bereits drei Wochen nach der Eröffnung des Kunstquartiers waren alle 45 Ateliers vermietet. „Da habe ich rasch gemerkt, dass ein großer Andrang aus allen möglichen Kunstrichtungen auf die Ateliers da war“, sagt sie. Im Herbst 2010 kaufte sie daher ein zweites Firmengebäude, auf das sie zufällig durch ein Inserat stieß. Wieder verwandelte sie die Büroräume in Künstlerateliers, und schon wieder sind fast alle bereits vermietet – insgesamt sind in den beiden Gebäuden des Kunstquartiers heute 90 Ateliers untergebracht.
Unter den Künstlern, die sich bei Dirnbacher eingemietet haben, ist auch die Malerin Ellen Semen. Sie kennt ihre Vermieterin seit sieben Jahren und ist froh, im Kunstquartier malen zu können. Früher malte sie zu Hause, aber dort musste sie ihre Bilder durch das Fenster hieven, weil das Treppenhaus zu eng war. In Dirnbacher sieht sie eine Förderin der Kunst. „Ohne sie würde ich wohl auf der Straße arbeiten müssen“, sagt sie schmunzelnd.
Auch im zweiten Haus des Kunstquartiers sind nur noch einige große Räume frei, aber diese würden bald wieder von Theaterhäusern für Proben genutzt werden, sagt Gabi Dirnbacher nicht ohne Stolz über den Erfolg ihrer Idee. Schon öfter haben ausländische Theaterhäuser im Kunstquartier Räume für die sechs- bis achtwöchige Probenzeit gemietet. Denn in Wien gäbe es neben einem Mangel an Ateliers auch einen Mangel an Proberäumen.
Ob Gabi Dirnbacher noch ein drittes Quartier für Künstler schaffen wird? Momentan sei sie zwar mit den vorhandenen beiden Künstlerhäusern ausgelastet, aber sie könnte es sich durchaus vorstellen. Der Bedarf an neuen Ateliers ist jedenfalls gegeben. Viele Künstler, die in Wien ein Atelier suchen, würden es ihr danken.