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"Hyper Real": The American Way of Wirklichkeit

21.10.2010 | 18:30 | BETTINA STEINER (Die Presse)

Die Fotorealisten wollten die Welt zeigen, wie sie ist – und malten stattdessen eine hoch polierte Oberfläche des amerikanischen Alltags. Die Schau „Hyper Real“ zeigt Vertreter, Vorläufer, Abweichler, Nachfolger.

Von der Wiener Gruppe heißt es, sie habe einmal versucht, einen Radiergummi zu beschreiben – das Experiment aber nach mehreren Seiten abgebrochen: Der ziemlich banale Gegenstand, so Oswald Wiener, habe sich seiner erschöpfenden Darstellung entzogen. In der Folge verlegte man sich auf die Collage. Sie bilde die Realität, so die Behauptung der Avantgardisten, verlässlicher ab.

Wie man es mit der Realität hält, wo man sie zu finden glaubt, das ist nicht nur die Gretchenfrage der Literatur, sondern noch mehr der bildenden Kunst: Je nach -ismus suchte man die Wirklichkeit im Licht oder in der Bewegung, in der Expression oder in der Form, später wurde die Realität gar am Material festgemacht, wenn etwa Yves Klein der Farbe als Farbe huldigte oder Lucio Fontana in die Leinwand schnitt. Zu den umstrittensten Methoden, die Wirklichkeit einzufangen, zählt der Fotorealismus: Umstritten, weil es fast zu simpel schien: Man nehme die Oberfläche und bilde sie ab, möglichst detailgetreu und möglichst präzise. Dafür fotografierten Künstler wie Chuck Close, Ralph Going, Don Eddy oder Robert Bechtle ab Ende der 60er-Jahre Objekte und Szenen des Alltags, möglichst unspektakuläre, so wenigstens die Vorgabe, und reproduzierten das Foto mittels Öl oder Acryl auf die Leinwand: kein Inhalt, kein Stil, nur das, was dem Auge geliefert wird, so die Devise.

 

Das Chrom glänzt, das Glas spiegelt

Dass sich dieser Ansatz selbstredend nicht durchhalten ließ, ebenso wenig wie die realistische Beschreibung eines Radiergummis, zeigt die überwiegend aus den Beständen von fünf Ludwig-Museen bestückte Schau im Mumok schon in ihrem Titel: Nicht real, nicht fotoreal, nein hyperreal ist das, was wir zu sehen bekommen – und das liegt nicht nur am unbedingten Trend zum Großformat. Zwei Einflüsse verarbeiteten die Vertreter dieser Richtung. Da wäre die Pop-Art, die Suppendosen, Waschmittel und Zigarettenwerbung, kurz den „American Way of Life“ salonfähig gemacht und den Boden bereitet hatte für Richard Estes Schaufenster, Robert Bechtles Vorstadt-Idyllen oder John Salts kaputte Autos. Sie werden im Untergeschoß des Mumok gewürdigt mit ein paar hübschen Exponaten aus dem Besitz der Ludwigs, die schon länger nicht zu sehen waren. Der zweite Einfluss – sowohl zeitlich und räumlich weit hergeholt: die Alten Meister, speziell die Niederländer mit ihren Interieurs und Stillleben, mit ihren schimmernden Perlen, ihren sich schon übernatürlich kräuselnden Faltenwürfen, mit ihrem polierten Silbergeschirr, das genauso hypertroph glänzte wie dann viel später in den siebziger Jahren das Chrom von Ralph Goings: Sein blitzender Wohnwagen schmückt auf Plakaten die halbe Stadt (wobei sich der Fotorealismus verblüffenderweise schwer reproduzieren lässt). Dass Going punkto Farbmanipulation bei holländischen Stillleben abgeschaut hat, sagt er selbst.

Auch seine Kollegen huldigten der Oberfläche, übersteigerten deren Beschaffenheit ins Künstliche: Nie spiegelte Glas so rein wie in Richard Estes Schaufenster, nie schimmerte Autolack so edel wie bei Don Eddy. Nie waren Poren so grob wie bei Chuck Close, wenn er seine weltberühmten, weit überlebensgroßen Porträts verfertigte. Real ist anders. Auch in der Vorgabe entfernten sich die Fotorealisten weit vom Anspruch, keine „besonderen“, sondern rein zufällige Themen zu wählen: Zum einen bestimmte die Vorliebe für bestimmte Oberflächen – Chrom, Glas, Lack – schon die Wahl des Sujets. Zum anderen beschrieben die Künstler – und da mögen sie noch so betonen, dass es ihnen darum nicht ginge – den Mode- und Lebensstil einer Epoche: Robert Bechtle zeigte den Künstler John De Andrea samt Frau und kleinem Sohn vor dem Vorstadthäuschen, Este verewigte Werbeplakate und Auslagen der Zeit, Malcolm Morley lässt ein Paar gemächlich über den Central Park rudern.

 

Fotografie? Das war etwas für Amateure

Die Kuratoren der Schau haben – getreu dem Untertitel „Die Passion des Realen in Malerei und Fotografie“ – den großformatigen Alltagsszenen in Öl und Acryl kleine Fotografien aus dem Bestand der Ludwigs gegenübergestellt: Saul Leitner, Lee Friedlander, Stephen Store und andere fingen amerikanische Straßenszenen ein. Die Auswahl zeigt verblüffende Parallelen, obwohl Fotografen und Fotorealisten weder Kontakt zueinander suchten noch die jeweils andere Kunstform besonders zu schätzen wussten. Fotografie war damals eine Sache für Amateure oder Werbegrafiker, den Fotorealisten diente sie nur als Mittel zum Zweck.

Ein hübscher Verweis auf die Alten Meister hängt übrigens in einem Nebenraum in der Nähe der großformatigen Friedhofsbilder von Jean Olivier Hucleux: William Beckman hat ein Diptychon verfertigt, nicht großformatig, sondern im Guten-Stuben-Format, nicht in Acryl, sondern in Ei-Tempera gemalt: links die Außenseite eines Wohnblocks mit Scheiben, in denen sich die Straßenkreuzer spiegeln, rechts ein karges Interieur mit Dame – wie ein Gemälde von Vermeer. Und vorne auf der Straße ein Milchpackerl. Empfohlen.

Mumok, bis 13. Februar, Mo bis So, 10 bis 18 Uhr, Do, 10 bis 21 Uhr. Anschließend reist die Schau in die Ludwig-Museen in Budapest und Aachen weiter.


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