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  10  "net_condition": Bedingungen oder Konditionierungen?  Reinhard Braun  
    Über ein multi-lokales Ausstellungsprojekt beim steirischen herbst 99
   
   


Ein multi-lokales Ausstellungsprojekt beim steirischen herbst thematisiert ein weiteres Mal »das Netz« als zentrale Plattform, als »testing ground« zukünftiger gesellschafticher Veränderungen. Und ein weiteres Mal muss die Frage gestellt werden, ob es sich tatsächlich um eine Antizipation zukünftiger kultureller Verhältnisse handelt oder um das fortdauernde Zelebrieren eines Netz-Hypes. Unter welchen Bedingungen werden die Bedingungen des Netzes verhandelt?(1)

Technologie hatte scheinbar immer schon mit Zukunft zu tun. Jedes neue Gadget, jedes neue Medium gibt dabei immer nur einen weiteren Blick frei auf Potenziale, Möglichkeiten und Entwicklungen. Sie erscheinen oftmals zunächst als Botschaften, als Metaphern - als Medienviren? Geht es zunächst um singuläre Phänomene wie den mythenumrankten Computer Eniac, so lässt sich erst mit dem Entstehen eines Verbundes solcher Gadgets von einem Medium oder einer technologischen Formation sprechen. Als prototypisch für diese Entwicklung wurde in den letzten Jahren verstärkt das Netz angesehen: ein mittlerweile weltweiter Verbund von technologischen Apparaten - ein Computernetzwerk. Doch sind es niemals nur die »Maschinen«, die ein Medium prägen, es sind vielmehr die dadurch etablierten und sich durchsetzenden Kulturtechniken und Alltagspraktiken, die Medienverhältnisse als Medienverhältnisse kennzeichnen. Aus diesem Grund ist gerade auch im Zusammenhang mit »dem Netz« viel von gesellschaftlichen Utopien im Sinne neuartiger kultureller Praktiken die Rede: Kommunikation und Information als gleichermaßen subversive wie emanzipatorische Handlungsfelder, begleitet von Unabhängigkeitserklärungen (John Perry Barlow) und den Visionen eines entstehenden globalen Bewusstseins (Pierre Henry Lévy). Daneben ist die nicht zu leugnende Ausdehnung »des Netzes« ebenso von kritischen Analysen begleitet, die gerade im »Netz« eine Verlängerung pankapitalistischer Praktiken und Mechanismen sehen (Critical Art Ensemble).

»net_condition: Kunst im Online-Universum«(2) wurde von Peter Weibel konzipiert und in Zusammenarbeit von steirischem herbst, Graz, ZKM | Zentrum für Kunst und Medientechnologie in Karlsruhe, Inter Communication Center in Tokio und Media Centre d'Art i Disseny in Barcelona zeitgleich an diesen Orten realisiert. Die BesucherInnen des temporär als Ausstellungsort adaptierten AVL Art Gates in Graz werden auch gleich einmal auf die Zukunft verwiesen: Der Katalog »net_condition: Art and Global Media«, der im Frühjahr 2000 bei MIT Press als Koproduktion der genannten Institutionen erscheinen soll, »wird erstmals die gesellschaftlichen, wirtschaftlichen, politischen und künstlerischen Konsequenzen dieser globalen Medien untersuchen, die unseren Erdball nicht nur mit ihren Botschaften umspannen, sondern auch mit ihrer versteckten historischen Genealogie« - so die Besucherinformation zur Ausstellung. In der Zukunft wird es sich also erwiesen haben, dass der Mediendiskurs, der seit gut fünf Jahren den deutschsprachigen Raum geradezu überschwemmt, gar nicht stattgefunden hat: Ist doch bisher - so Peter Weibel und Timothy Druckrey im Handout zur Ausstellung - niemand auf die Idee gekommen, »die gesellschaftlichen, wirtschaftlichen, politischen und künstlerischen Konsequenzen« von (globalen) Medien anzudenken, zu reflektieren, zu untersuchen.

Panoramen, Territorien, Game-Konsolen

Bevor man sich also auf die - man muss es vorwegnehmen: großteils bekannten Projekte - einlassen könnte, wird man schon mit einem Diskurs über diese Projekte konfrontiert, der sich rhetorisch als bestimmender Diskurs über die darin repräsentierten künstlerischen und kulturellen Praktiken in Szene setzt. Michel Foucault hätte dies als »Verknappung der sprechenden Subjekte« bezeichnet. »Die Disziplin [hier: Medientheorie, Netztheorie] ist ein Kontrollprinzip der Produktion des Diskurses.«(3) Es geht bei diesem kritischen Einwurf nicht darum, die Macht hinter den Diskursen zu thematisieren, sondern einen im vorliegenden Fall spezifischen Bruch zwischen Diskurs und Signifikat: Der »panoramische Überblick über die Geschichte, Theorie und Praxis der Telekommunikation« - die Geschichte, nicht Geschichten; die Theorie, nicht Theorien; die Praxis, nicht Praktiken - richtet sich im konkreten Fall auf ein mediales Handlungsfeld, das jenseits der utopistischen oder kritischen Perspektive durchwegs als heteronom, diskontinuierlich, zerstreut, multilokal, durch »Heterogenese« (Andreas Broeckmann) gekennzeichnet beschrieben wird. Im vorliegenden Fall wird es aber gerade in und durch die theoretische Zurichtung als einheitliches Phänomen darstellbar gemacht. In einer paradoxen - und was schlimmer ist: oberflächlichen - Verkehrung wird aus dem Rhizom eine Baumstruktur. Es geht also bei einem Projekt wie »net_condition« nicht nur um Vermittlung künstlerischer Praktiken und ihrer spezifischen Soziotope, nicht nur um Reflexion dieser Praktiken, um die Reorganisation von Geschichten, Theorien und Disziplinen im Hinblick auf eine hegemoniale Kunstgeschichtsschreibung, die immer noch dazu neigt, »Medienkunst« zu marginalisieren. Es geht darum, und das wird an der leichtfertigen Terminologie leider allzu deutlich, selbst eine Diskurshegemonie zu installieren, um das Abstecken und Annektieren von Territorien einer diskursiven Topografie.

Damit genug von Kunstpolitik und Machtagglomeration. Freuen wir uns also auf dieses Buch, das uns - endlich! - die Augen öffnen und einen »panoramischen Überblick über die Geschichte, Theorie und Praxis der Telekommunikation« geben wird. Womit wir wieder beim Thema wären: die - manche sagen unselige, manche unvermeidliche - Verquickung von Technologie (aka pankapitalistische »War-«, »Sight-« und »Flesh-Machine«, um nochmals mit dem Critical Art Ensemble zu sprechen) und Kunst. Unbestritten ist die Notwendigkeit und die Ernsthaftigkeit, mit der sich Festivals wie der steirische herbst dieser Thematik annehmen: Gerade der herbst hat in den letzten Jahren mit Projekten wie »Zonen der Verstörung«, »Endoscape Technoscope«, »on dis/place/ment«, »Made in Hongkong« und »Kunst und globale Medien«, in dessen Zusammenhang auch »net_condition« anzusetzen ist, immer wieder Medienverhältnisse und die Rekonfiguration der Medienlandschaft thematisiert, Fragen über kulturelle Austauschverhältnisse, die Zirkulation von (Medien-)Signifikanten und die Konsolidierung einer Techno-Kultur gestellt. Von dieser Perspektive aus erscheint die Präsentation von Netzwerkprojekten als Teil des Programms des diesjährigen Festivals logisch und zwingend. Betritt man die Ausstellungsräume des Grazer AVL Art Gate, so erscheinen die Anordnung und das Setup der Projekte durchaus erfreulich und gelungen - ganz im Gegensatz etwa zu vielen Environments auf der Ars Electronica in den letzten Jahren: Cafe, Büchertisch, Videopräsentationen und Installationen ergänzen die unvermeidlichen Web-Terminals zu einem durchaus abwechslungsreichen und adäquaten Medienenvironment.

Das ändert allerdings nichts an der virulenten Paradoxie, die sich beim Aktivieren der Projekte in der Grazer Ausstellung einstellt: Gerade das Setup der Ausstellungsräume nimmt - als mögliches Handlungsfeld für die BesucherInnen - eine grundsätzliche These über die präsentierten Arbeiten, über Netzkultur im Allgemeinen und »net.art« im Besonderen vorweg - dass es sich bei diesen Projekten nämlich grundsätzlich um das Initiieren und Generieren von Handlungsfeldern dreht, um Projekte, die nicht nur als Interaktion zu werten sind und schon gar nicht als Repräsentation, sondern die gleichzeitig ein soziales Feld installieren. Wobei postuliert wird, dass der Begriff soziales Feld nur mehr als ein Verbund von Mensch-Maschine-Interaktionen kennzeichenbar ist. Es entsteht eine (scheinbar) logische Kette von Kommunikation/Interaktion zu sozialem/öffentlichem Raum. Wurde »net.art« zuweilen etwas emphatisch als ein Thematisieren von netzspezifischen Bedingungen beschrieben, die sich oftmals als rein technologische Basis des Netzes selbst herausstellen, etwa Protokollmodalitäten, Auflösungen oder Routing-Logistik,(4) so erscheinen mittlerweile der »kollektive Cyberspace«, die »verteilten virtuellen Realitäten«, die MUDs und MOOs - der »telematische Horizont« - als bestimmende (teleologische?) Eigenart dieser nicht-homogenen, um nicht zu sagen: hybriden Medienlandschaft. Mit einem Wort: Kunst wird soziales Handlungsfeld, weil maschinenbasierte Austauschverhältnisse soziale Relevanz erhalten und Kunst (zumindest »net.art«) sich maschinenbasiert definiert. In einem Zirkelschluss werden Online-Game-Konsolen als soziales Paradigma inauguriert und Mensch-Maschine-Interaktionen als soziales Testfeld präsentiert.

Dieser Zirkelschluss führt zu einem viel wichtigeren zurück: Indem sich die Beschreibung zeitgenössischer Kultur immer mehr Vokabel aus dem technologisch/wissenschaftlichen Diskurs aneignet, erscheint Gesellschaft »überraschenderweise« immer mehr analog zu technologisch/wissenschaftlichen Systemen zu funktionieren. In den vielfachen Verknüpfungen von Individuum und technologischem Gadget/Medium, im Angeschlossensein des Subjekts an medientechnische Verfahrensweisen zeigt sich der kulturelle Turn-over der letzten Jahrzehnte - ohne dass es jedoch ausschließlich Technologien und Medien wären, die Kultur hervorbringen, definieren und weiterentwickeln. Denn dabei handelt es sich keineswegs um eine schlichte Einübung in Medienverhältnisse durch das Individuum, sondern um verschlungene, sich ständig ausdifferenzierende und auch umkehrende Prozesse der Aneigung und Umarbeitung, um eine »Kunst des Handelns«, um mit Michel de Certeau zu sprechen. Wo aber bleiben - wenn es um Netzbedingungen geht, um diejenigen Bedingungen, die das Netz überhaupt erst zu einer kulturellen Maschine machen - die Diskurse über das Implantieren von Medien und Technologie in kulturelle Austauschsysteme, um die jeweils spezifischen kulturellen und sozialen Kontexte und Widerstände, innerhalb derer Medien ihre je spezifische Potenzialität entfalten? Setzt ein Begriff wie »Global Media« bereits so etwas wie »Global Culture« voraus? Und ist nicht gerade die Annahme einer »Global Culture« eine ungeheuerliche - und im übrigen neo-koloniale - Perspektive auf Kultur überhaupt? Befestigen nicht derartige Diskurshegemonien gerade kulturelle Verhältnisse, die zu unterlaufen, ein Anliegen künstlerischer Praktiken darstellt. Fragen, die an der »Oberfläche« der Ausstellung nicht sichtbar werden.

Pluralismen, Geschichten, Perspektiven

Wenn es auch scheinen mag, dass hier Diskurse über die Ausstellung geblendet werden, dann hat dies auch mit der Logik der Projekte zu tun: Es geht hier nicht um die Vermittlung einer Interpretation oder die kritische Analyse der Projekte, weil sich diese gar nicht ausschießlich auf ein Publikum vor Ort beziehen. Der Kritiker (und der Kurator!) ist - gerade wenn man die Rede von der multilokalen Präsenz und der verteilten Autorenschaft ernst nimmt - keine alleinige Instanz mehr, über die sich künstlerische und kulturelle Praktik vermittelt: Sie wendet sich direkt an die RezipientInnen und deren Aktivierung, ihre Interventionen, die je spezifischen Pfade und Navigationsmuster, die sie vornehmen und einschlagen. Fragen sie das »Berkeley-Orakel« von Jochen Gerz ihre eigenen sinnlosen und irrelevanten Fragen, testen Sie Ihre datavarischen Fähigkeiten an »LinX3D« von Margarete Jahrmann und Max Moswitzer und überprüfen Sie derart die Soziabilität dieser Projekte und deren Potenzial zur Überformung dessen, was wir als sozialen Raum zu bezeichnen geneigt sind.
Nur so viel sei verraten: Angesichts der ebenso oft proklamierten Hybridisierung von Medien und Kontexten, von Codes und Zeichensystemen erschien das »net.art.archive« von Marina Grzinic und Aina Smid als die überzeugendste Arbeit - ortsspezifisch, trashig und in respektlosem Umgang mit Medien und Materialen wird darin eine Geschichte erzählt und eine Perspektive vermittelt. »net.art.archive« präsentiert im Untergeschoß des AVL Art Gate keinen objektivierten Signifikanten »net.art«, sondern eine durch konkrete historische Bezüge und individuelle Ansätze geprägte künstlerische Praktik: Die Videos »Post-socialism + IRWIN«, 1997, und »On the Flies of the Market Place«, 1999, »vermessen« einen kulturell-künstlerischen und politischen Raum und handeln von der »Idee des europäischen Raumes, wie er geteilt und geopfert wird« (Grzinic, Smid). Daneben finden sich im »net.art.archive« gescannte, kopierte und überarbeitete Texte und Bilder aus Magazinen, Enzyklopädien und Büchern, die Teil des ideologischen, politischen und sozialen Raumes des einst als Jugoslawien bekannten Staates waren. Das Archiv, das sich in der Gegenwart in keinem festen geografischen und/oder historischen Kontext befindet, spiegelt dadurch die Perspektive der Reflexion seiner eigenen Voraussetzungen und Genealogien. Damit hebt sich das Projekt wohltuend vom insgesamt vorherrschenden technologischen Imperativ der Ausstellung und der Präsentationsräume ab. Um dies zu sehen, musste man allerdings doch wieder nach Graz reisen. Es gibt eben keine Medientheorie, es gibt nur Medientheorien. Das Stichwort lautet »Inklusion«, nicht »Exklusion«.



  1. Diese und andere Fragen sollen in der nächsten Ausgabe im Hinblick auf das gleichnamige Projekt am Karlsruher ZKM gestellt werden. - back
  2. 25. September bis 24. Oktober 1999; www.xspace.at, http://www.zkm.de/, http://www.nttice.or.jp/, www.mecad.org; steirischer herbst: http://stherbst.adm.at/- back
  3. Die Ordnung des Diskurses. Frankfurt am Main 1991, S. 25. - back
  4. Vgl. Institut für moderne Kunst Nürnberg (Hg.): Jahrbuch 98/99 - netz.kunst. Nürnberg 1999. - back
 
     

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