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07.12.2005 - Kultur&Medien / Ausstellung
Egon Schiele: Rotieren um die Einsamkeit
VON ALMUTH SPIEGLER
Schiele in der Albertina. Masse statt Präzision - trotz spannender neuer Thesen.

Egon Schiele (1890-1918) im Frühjahr im van Gogh Museum Amsterdam, Egon Schiele gerade jetzt in der Neuen Galerie in New York und im Grand Palais in Paris - und ab heute Egon Schiele also auch in der Albertina. Wenn das kein Zeichen der zwingenden Aktualität des österreichischen Frühexpressionisten in diesen kalten neoliberalen Zeiten ist - der Mensch, einem pessimistischen Weltbild frönend, fremden Kräften ähnlich hilflos ausgesetzt wie vor dem Ersten Weltkrieg? Na ja. Wenn man unbedingt will.

Eigentlich hätten die Blätter aus dem über 200 Stück reichen Albertina-Bestand um diese Zeit in der Royal Academy in London gezeigt werden sollen. Und in Wien eine Paul-Klee-Ausstellung. Doch das Denkmalamt hatte Direktor Klaus Albrecht Schröder einst den Verleih nach Amsterdam nur gestattet, wenn die Blätter danach längere Zeit ruhen dürften. Also doch nicht London. Dafür die Propter-Homines-Fluchten. Hier ruht es sich scheinbar bequemer - und das Denkmalamt kann gerade einmal schlechte Träume wünschen. Alles klar? So weit zur verwirrenden Vorgeschichte. Jetzt zum nicht weniger verwirrenden, relativ kurzfristig erarbeiteten Ergebnis.

Für dieses hat sich Schiele-Connaisseur Schröder höchstselbst kuratorisch ins Zeug gelegt. Und er kam zu höchst interessanten Deutungen, die diesen in Wien trotz der beachtlichen Masse von 220 Exponaten nicht unbedingt originellen Kraftakt einer Schiele-Schau an sich gerechtfertigt hätten.

Erstens: Schieles radikalste Bilder folgen einer ausgefeilten "theatralischen Struktur" und sind keine spontanen Entäußerungen der sexuellen Bedürfnisse und Ängste eines pubertierenden Künstlers - wie immer noch, zu bemerken an der aktuellen Rezeption der New Yorker Schiele-Schau, gemeinhin angenommen wird. Vielmehr handelt es sich bei den Selbstbildnissen wie auch bei vielen Akten vor allem um modellhafte Inszenierungen existenzieller menschlicher Zustände, um Symbolfiguren der Einsamkeit, beeinflusst von medizinischer Dokumentationsfotografie von Hysterikerinnen, damals aufkommender pornografischer Massenfotoproduktion und Schieles ausgeprägtem Interesse am damals boomenden Spiritismus, besonders an der Theosophie.

Und zweitens hat Schröder den ehrgeizigen Versuch gestartet, manche der in aller Welt verstreuten Zeichnungen, die Schiele während einer Sitzung anfertigte, wieder zusammenzuführen. Bis zu elf Skizzen waren das pro Modell, die erst nachträglich koloriert wurden. Wie die Kader eines Films könne man sich, so Schröder, diese sequenzielle Arbeitsweise vorstellen, Schieles Blick rotierte sozusagen um das Modell.

Alles sehr spannende Ausführungen, die sich in der Ausstellung durchaus auch nachvollziehen lassen - wenn sie einem vorher erklärt wurden. Irgendwie scheint man sich verzettelt zu haben. Man konnte sich trotz der Beschränkung auf Schieles bedeutendste Jahre - von 1910 (Durchbruch zum Expressionismus) bis 1915 (vor dem routinierten Spätwerk, sofern man davon bei einem mit 28 Jahren Gestorbenen sprechen kann) - nicht zwischen chronologischer Retrospektive und einer zeitgemäßeren thematischen Gliederung entscheiden. Oder hat man sich von der Masse, vom Satz "größte Wiener Schiele-Schau seit Otto Benesch 1948", verführen lassen.

Weniger hätte in diesem Falle mehr Präzision bedeutet. So fragt man sich, warum trotz Konzentration auf Akte, Selbstbildnisse und Kinderbilder trotzdem Krumau-Bilder, Blumen und Boote dazwischengestreut wurden. Vor allem der einzigartige Albertina-Bestand an Gefängnisbildern würde einmal eine eigene Schau verdienen - doch wer weiß, vielleicht müssen die ja jetzt die nächsten Jahre im Tiefspeicher ruhen.

Und weiters fragt man sich irgendwann, warum es trotz Schröders Betonung einer "strengen Chronologie" Wände gibt, wo sich ein Liebespaar von 1913, ein blonder Akt von 1912, eine liegende Frau von 1913 und das Porträt des Franz Hauer von 1914 ohne Erklärung aneinander reihen.

Aber wie auch immer. Eines sieht man jedenfalls mit Sicherheit: großartige Malerei. Auf Papier. Und das in der Albertina.

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