London: Ai Weiweis "Sonnenblumensaat" in der Tate
Gallery ist nicht länger begehbar
Vorsicht – gefährliche Kunst!
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Das war einmal: Aus Angst, dass die Besucher Porzellanstaub inhalieren
und eine Massenklage anstrengen könnten, hat die Londoner Tate-Gallery
die begehbare "Sonnenblumensaat" des chinesischen Künstlers Ai Weiwei
für die Besucher gesperrt. Foto: epa/Andy Rain
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Von Peter
Nonnenmacher
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Die Tate
Gallery fürchtete Porzellanstaub.
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Kommentar zum Europa-China-Dialog.
London.
Es sollte ein Kunstwerk werden, das sich der Berührung erschließt. Ein
Touchy-Feely-Objekt sozusagen, das man sich durch die Finger rieseln
lassen konnte. Ein grauer und weißer Sandstrand, den man betrat, auf dem
man herum spazierte, auf dessen Kieseln man sich niederließ. Auf dessen
immenser Fläche man, bei näherer Betrachtung, der Individualität jedes
einzelnen Sandkorns gewahr wurde.
Auf dem Besuchern kluge Gedanken zum Verhältnis zwischen China und
dem Westen, dem Einzelnen und der Massengesellschaft, beharrlicher
Handarbeit und automatisierter Produktion, Klischee und Realität,
Freiheit und Repression kommen sollten.
Die Sandkörner waren, genau genommen, Sonnenblumenkerne. Noch
genauer: Sie waren Porzellanteilchen, die vorgaben, Sonnenblumenkerne zu
sein. Hundert Millionen davon hatte der chinesische Künstler Ai Weiwei
aus seiner Heimat in die Tate Modern schaffen lassen. Seine
"Sonnenblumensaat", in der berühmten Turbinenhalle des Museums, war die
Installation dieses Winters an der Themse: Ein tausend Quadratmeter
großer und zehn Zentimeter tiefer Sonnenblumenkern-Teppich, einladend
zum Betreten, zum Betrachten, zum neugierigen Aufrühren, ein magisches
Feld, ein Kraftakt, eine künstlerische Großtat, ein politisches
Statement, etwas für die ganze Familie.
Massenklage befürchtet
Das war die Idee. Und die Idee war gut. Aber dass sie so gut war und
unmittelbar Tausende von Familien und Sonnenblumenkern-Verehrern anzog,
wurde ihr zum Verhängnis. Das Herumtollen der Besucher auf dem Kunstwerk
nämlich erzeugte Staub – durch die Reibung der Porzellanteilchen. Der
Staub aber, fand die Tate, könne gefährlich sein, wenn er inhaliert
werde. Also wurde das Kunstwerk am vierten Tage nach der Installation
von Sicherheitsexperten des Museums gesperrt.
Seither können Besucher, die eigens wegen Weiwei angerückt sind, den
Sonnenblumenkern-Teppich nur noch aus der Ferne inspizieren. Am
Absperrband endet die Erfahrung mit dem lockenden Objekt. Zu oft hat die
Tate in den letzten Jahren Personen, die sich im Zusammenhang mit
experimentellen Schaustücken verletzten, Schadenersatz zahlen müssen.
Eine Massenklage wegen inhalierten Porzellans wollte sie offenkundig
nicht riskieren: Auch wenn frustrierte Museumsgäste wegen "so viel
Bevormundung" grimmig fluchen und Fachleute wie der Edinburgher
Professor Ken Donaldson versichern, dass "keinerlei Gefahr besteht für
Personen, die geringen Mengen solchen Staubes kurzfristig ausgesetzt
sind".
Mitfühlendes Tate-Personal offeriert seit dem Zugangsverbot
wenigstens das eine oder andere Porzellanstückchen aus der Tabu-Zone zur
persönlichen Begutachtung. Lässt einen prüfen und sehen, dass sie alle
tatsächlich verschieden sind. Zwei Jahre lang hat Weiwei sage und
schreibe 1600 Kunsthandwerker aus der Stadt Jingdezhen beschäftigt, um
diese kuriosen Teilchen hervorzubringen. Sie wurden
sonnenblumenkernmäßig geformt, im Ofen gebrannt, mit ein paar
Pinselstrichen versehen, erneut gebrannt, gesammelt, verpackt und – 150
Tonnen schwer – nach London verschifft, wo sie der prominente
chinesische Schwarzbart mit PR-Verstand und immer neuen artistischen
Einfällen in besagter Turbinenhalle "zum Gebrauch" ausstellen wollte.
Porzellankerne mit Hintersinn
An tieferer Bedeutung fehle es seiner "Sonnenblumensaat" nicht,
erläuterte Weiwei zu Beginn der Show wissbegierigen Betrachtern. Von Mao
Tse-Tung war die Rede, dem sich seinerzeit auf stilisierten
Propagandabildern die Gesichter Chinas "wie Sonnenblumen der Sonne"
zuwandten. Sonnenblumenkerne seinen zudem damals auch noch in größter
Armut verfügbare kleine Imbisse gewesen, die man sich brüderlich geteilt
habe, meint Weiwei. Auch an die kunstfertige Porzellan-Tradition der
alten Stadt Jingdezhen habe er anknüpfen wollen, die längst von
zeitgenössischer Massenfabrikation an die Wand gedrängt worden sei.
Chinesische Geschichte, westliche Modernisierung, das Individuum in
einem Meer von Menschen und von Massenware – das alles hat er mit seinen
Porzellan-Kernen aufzeigen wollen. Nun ist es, auch zu seinem größten
Bedauern, unmöglich geworden, sich im Saatbeet der hundert Millionen
Kerne in der Tate Modern des kostbaren Einzelnen durch eigene Annäherung
zu versichern. Fern ist der Strand gerückt, man starrt auf seine weite
Fläche, die leer ist ohne Menschen, ohne Chance zur Interaktion. Mehr
als sechs Monate lang soll Weiweis "Sonnenblumensaat" die Turbinenhalle
zieren. Es ist eine gewaltige Leere, die einen da anfällt in diesem
Tempel globaler Kultur in London.
Printausgabe vom Donnerstag, 21.
Oktober 2010
Online seit: Mittwoch, 20. Oktober 2010 18:14:29
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