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Ljubljana
Manifesta 3
von Christian Kravagna

Irgendwann, im Zuge seiner Recherchen, ging es ihm wie ein Licht auf: Europa leidet an einem ‹Borderline Syndrome› – und das Kuratorenteam der Manifesta 3 hatte ein Bild gefunden, ein Beschreibungsmodell, mit dem es möglich schien, den gegenwärtigen europäischen ‹Geisteszustand› zu erfassen. Niemand wird bestreiten, dass Grenzfragen in einer Reihe politischer, ökonomischer, sozialer und ‹ethischer› Diskussionen – von der ‹Festung Europa› bis zur gentechnischen Reproduktion von Leben – eine zentrale Rolle spielen. Die Rede von der Grenze wird jedoch schnell zum Gerede, wenn keines der Probleme im einzelnen anvisiert wird, stattdessen alle zusammen in einen undurchsichtigen Grenz-Nebel kondensieren.

Die Bewerbung dieser ‹europäischen Biennale› war schon im Vorfeld von jenem ‹border-sound› gekennzeichnet, der ein wenig Problembewusstsein vermitteln sollte, ohne sich dabei politisch, oder auch nur theoretisch, exponieren zu müssen. Die Übertragung des psychologischen Konzepts ‹Borderline Syndrome› auf ein ‹europäisches Ego› (Francesco Bonami) musste selbst die KuratorInnen in Verwirrung stürzen. Zwar wollte man die Manifesta durchaus als ‹Therapie› der diagnostizierten europäischen Krankheit verstehen, doch war schon bald nicht mehr klar, ‹wer der Patient und wer der Arzt› ist. (Bonami) Die immer wieder rhetorisch gestellte Frage ‹Where do you draw the line?› blieb bezüglich der Eingrenzung des Ausstellungsthemas allzu unbeantwortet, als dass eine ansatzweise Klärung von Problemlagen möglich gewesen wäre.

Der Austragungsort Ljubljana, als Hauptstadt einer jungen Nation zwischen ‹Ost› und ‹West›, zwischen sozialistischer Vergangenheit und bevorstehender EU-Mitgliedschaft – von den Board Members der Manifesta freundlicherweise als Land ‹irgendwo zwischen Europa und dem Balkan› bezeichnet –, sollte den Part des Konkreten übernehmen. Die Stadt, die das Flair des emergenten Kapitalismus versprüht und zugleich markiert ist von vielerlei Spuren eines anderen Gesellschaftsmodells, hätte tatsächlich eine Reihe von Anknüpfungspunkten geboten, um Transformationen ökonomischer, sozialer und urbanistischer Strukturen nachzuzeichnen und dabei schliesslich auch die Rolle der Kultur in diesen Prozessen zu beleuchten. Davon ist allerdings in der Ausstellung nichts zu bemerken. ‹Ljubljana› blieb leeres Zeichen für Grenz- und Übergangssituationen aller Art. Vor allem von Seiten slowenischer KulturproduzentInnen kommt berechtigte Kritik an der raumschiffartigen Landung eines Kunst-Events, dessen Verantwortliche den lokalen Produktionsbedingungen mit Ignoranz begegnen und somit Ljubljana nur als Projektionsfläche nutzen, anstatt sich den Erfahrungen und Kapazitäten seiner Kunstszene in einem produktiven Dialog zu öffnen. Eine weniger von aussen aufgesetzte und mehr in Kooperationen mit vorhandenen Initiativen entwickelte Ausstellung wäre gerade auch für ein anreisendes Publikum aufschlussreicher gewesen.

Abstrahiert man (was man freilich nicht sollte) von den konzeptuellen und strukturellen Defiziten dieser Manifesta, so bleibt sie eine überschaubare, angenehm unspektakuläre, weniger an Inszenierung als an Werken orientierte Ausstellung. Positiv vermerkt man im Unterschied zur Mehrzahl der Grossausstellungen ‹junger Kunst› den geringen Anteil von Marktware, was zugleich heisst, weitgehend von reiner Oberflächenkunst und zynischen Selbstgefälligkeiten verschont zu bleiben. Selbst wenn die Einladung einiger KünstlerInnen persönlichen Neigungen der KuratorInnen zuzuschreiben ist, so scheint die Auswahl insgesamt doch weniger vom Interesse an ‹Persönlichkeiten› geleitet als von der Absicht, einzelne Aspekte von Grenzerfahrungen, -konflikten und -überschreitungen in künstlerischen Reflexionen anzusprechen. Was die Ausstellung interessant macht, ist nicht allein der vergleichsweise hohe Prozentsatz ‹politischer› bzw. ‹engagierter› Arbeiten zu Themen wie Migration, Identität und Dislozierung, sondern das Nebeneinander unterschiedlicher Ansätze, mit diesen Themen künstlerisch zu verfahren. Betrachtet man insbesondere die zahlreichen Arbeiten, die sich einer dokumentaristischen Ästhetik bedienen, so zeigen sich offensichtliche Differenzen in bezug darauf, was es heisst, ein Problem ‹abzubilden›; wie weit Einzelfälle exemplarische Funktion übernehmen können; wie sehr ‹Tatsachen› für sich selbst sprechen können usw. Diejenigen, die meinen, es genüge, Kamera und Mikrofon vor sprechende Situationen zu halten, erreichen meist nicht mehr als die üblichen TV-Dokus – kurzfristige ‹Betroffenheit› ohne weiteren Erkenntnisgewinn. So gibt Amit Goren Einblick in einen inoffiziellen Kindergarten illegaler Einwanderer in Israel. Sanna Sarva
präsentiert die Geschichten und fotografischen Porträts von Immigranten in Finnland in der Galerieästhetik der achtziger Jahre. Nasrin Tabatabai begleitet mit der Videokamera einen in Rotterdam lebenden Türken bei einer Autofahrt, um den Verwandten in der Türkei die Stadt über den Film näher zu bringen.

Woran es diesen und anderen Arbeiten mangelt, ist eine Reflexionsebene, auf der die Probleme der anderen auch als ‹unsere› erkennbar werden. Eine Ebene, auf der nicht nur als politisch geltende Sachverhalte wiedergespiegelt werden, sondern etwa auch die Politik der Repräsentation mitgedacht ist. Solches geschieht zum Beispiel in einem Video von Phil Collins, das die Arbeit von Reportern in Mazedonien beobachtet und so zeigen kann, wie nach ganz bestimmten Vorstellungen jene Bilder von Flüchtlingen produziert werden, mit denen wir medial gefüttert werden. Die wahrscheinlich ausgereifteste Arbeit, sowohl was die Frage der Darstellung als auch das Thema der Grenze betrifft, ist Ursula Biemanns ‹Performing the Border›. Sie untersucht, wie die Auslagerung der Produktionsstätten von US-Hochtechnologiefirmen hinter die mexikanische Grenze dort zu Verwerfungen des ökonomischen und sozialen Gefüges führt, wie sich eine scheinbar fast immaterielle Industrie auf von Frauen geleistete körperliche Arbeit stützt und welche spezifischen weiblichen Biografien daraus hervorgehen. Hier werden weniger Einzelschicksale geschildert als Beobachtungen und Gespräche zu Fragmenten einer Theorie über Geschlecht, Arbeit und Technologie verarbeitet.

Bis 24.9.2000

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Ausgabe: 09 / 2000
Ausstellung: ( - )
Institution: Manifesta (Ljubljana)
Autor/in: Christian Kravagna
Künstler/in: Amit Goren , Sanna Sarva , Nasrin Tabatabai , Phil Collins , Ursula Biemann
Homepage: www.manifesta.org