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02.12.2005 - Kultur&Medien / Ausstellung
Schiele: Die Logik des Blicks
VON JOHANNA HOFLEITNER
Anlässlich der Schiele-Schau in der Albertina sprach das "schaufenster" mit Direktor Klaus Albrecht Schröder über Kunst, Psychologie & Pornografie.

Schiele bei Auktionen in New York, Schiele im Dreimonate-Rhythmus unterm Hammer in Wien. Schiele auf jahrelangen internationalen Ausstellungstourneen. Und zuhause mit Landschaftsbildern im Leopoldmuseum. Schiele als ewiger Restitutionsfall in den Medien. Und jetzt schon wieder Schiele, in der Albertina?

Die Reaktion, die Albertina-Direktor Klaus Albrecht Schröder auf diese Frage an den Tag legt, fällt energisch aus. "Die wichtigste Antwort ist: Wir dürfen Kunst nicht dem Druck der permanenten Innovationen aussetzen, die sagt: ,Nur Kunst, die dem modischen Neuheitspostulat entspricht, wollen wir sehen!’ In der Musik stellt sich diese Frage gar nicht, in der Kunst merkwürdigerweise schon. Ich hielte Schiele jede Woche aus. Bedeutende Kunst kann ich jeden Tag sehen." Und setzt nach: "Die Bereicherung eines Kunstwerks wird umso tiefer, je mehr man sich mit ihm befasst. Wenn man noch dazu bedenkt, wie heute die Betrachtung eines Kunstwerks mit geradezu galaktischer Schnelligkeit erfolgt, dann kann der Wiederholungsfaktor nur hilfreich sein."
Womit er absolut Recht hat.

Dennoch: Kann über Schiele, der mittlerweile populär ist wie kaum ein zweiter Bildkünstler des 20. Jahrhunderts, überhaupt noch irgendetwas Neues gesagt werden? Ja, es kann. Was, das zeigt der Kurator Schröder, der über das Werk Egon Schieles als Kunsthistoriker seit 20 Jahren forscht, in dieser Ausstellung.
Und er schöpft dabei aus dem Vollen – nicht nur, weil die Albertina über einen der weltweit größten Schiele-Bestände verfügt. Außerdem hat Schröder sich um 80 Leihgaben aus aller Welt bemüht. Mit insgesamt 220 gezeigten Werken ist die Schau nach der monumentalen, im Jahr 1948 ebenfalls von der Albertina unter ihrem damaligen Direktor Heinrich Benesch ausgerichteten, Schiele-Personale auch die insgesamt zweitgrößte Ausstellung zum Werk des großen österreichischen Expressionisten, der erst Jahrzehnte nach seinem Tod aus dem Schatten Klimts und Kokoschkas getreten ist.

Was ist nun das zentrale Anliegen dieser Ausstellung? Schröder: "Mit einer Fülle von Arbeiten aus dem für Schiele wichtigsten zentralen Zeitraum von 1910 bis zum Juni 1915 gibt diese Ausstellung zum ersten Mal einen geschlossenen Überblick über die Folgerichtigkeit seiner Entwicklung, seine Vielfalt als Zeichner und als Aquarellist – also die Leitwährung seines gesamten Schaffens."

"Der inszenierte Blick": So ließe sich Schröders Zugang wohl am besten beschreiben. Damit widersetzt er sich dezidiert der weithin verbreiteten, individualpsychologischen Deutelei einer vermeintlich schwierigen Persönlichkeitsstruktur Schieles. Diesen "Zirkelschlüssen" (Schröder) opponiert er durch die Einhaltung einer genauen Chronologie sowie die minutiöse Rekonstruktion einzelner Aktsitzungen Schieles durch die Wiederzusammenführung von längst verstreuten Bildserien, die während einer einzigen Session entstanden sind – eine Methode, die es ermöglicht, Schieles Logik des Blicks zu rekonstuieren – eines nachgerade fotografischen Blicks, nicht zuletzt unter dem Einfluss der seit 1890 prächtig florierenden erotischen und pornografischen Fotografie.
"Schiele hat sehr schnell gearbeitet und die Zeichnungen immer erst nachträglich und ohne Modell koloriert", sagt Schröder. "Das wurde an der Akademie trainiert. Bringt man nun mehrere während einer Aktsitzung entstandene Bilder zusammen, entsteht ein merkwürdig sequenzielles Denken – als würde Schiele in Filmkadern denken."

Isolation. Als Beispiel weist Schröder auf eine Gruppe Gouachen hin: "Ein anderes, bisher vernachlässigtes Phänomen ist Schieles Isolation seiner Figuren. Ich spreche hier von der ,Anwesenheit des Abwesenden’. Schiele präzisiert weder die räumliche Umgebung noch zeigt er die Gegenstände, die die Modelle allenfalls in Händen halten und auf die sich deren Blick konzentriert. Abwesend und unsichtbar werden sie aber vom Betrachter stark mitempfunden; so wie jener Polster, auf dem sich Friederike Beer-Monti mit ihrem Kopf legt und den sie mit ihren Händen umfasst. Schiele lässt dieses wichtige Requisit, das die natürliche Haltung begründet hätte, weg und verunsichert so die räumliche Perspektive bis zur völligen Destabilisierung des Blatts. Konsequent schlägt er der Porträtierten schließlich vor, das ausgeführte Gemälde an die Decke zu hängen, womit er endgültig aus dem schweren Liegen des Körpers einen unsicheren Schwebezustand gemacht hat. Die Figuren werden zu Symbolfiguren des Verlorenseins, des Unbehaustseins und der existenziellen Ortlosigkeit: Zeugen der radikalen Selbstentfremdung."

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