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17.02.2005 - Kultur&Medien / Ausstellung
Centre Pompidou: Nietzsche mit Luftgitarre
VON JENS E. SENNEWALD
Bunter Haufen trunkener Kunst: "Dionysiac" versammelt 14 zeitgenössische Positionen, darunter die des Wiener Ensembles "Gelatine".

Dionysische Kindereien im Pariser Centre Pompidou

Wenn Buben in den Achtzigern sich einmal so richtig gehen las sen wollten, schlossen sie sich im Zimmer ein, drehten alle Knöpfe auf zehn, tranken Bier und spielten Luftgitarre. Die meisten sublimierten dieses kleine Plaisir im Lauf des Älterwerdens. Andere nicht. Manche machten Kunst daraus.

Einige von ihnen hat nun Kuratorin Christine Macel im Centre Pompidou versammelt. Das könnte interessant sein, kam doch nach der Infantilisierungswelle der TV-Unterhaltung Ende der Neunziger die Kunst der Kinderei. Man erinnert sich an John Bock in der Kasseler Fuldaaue bei der documenta 11: Mit einem umgebauten Mofa rieb er einen Zuckerhut ab, bestäubte Erdbeeren, verteilte sie ans Publikum. Ambitionierter spielte Thomas Hirschhorn im Pariser Centre Culturel Suisse mit Spielzeugeisenbahnen und ließ gegen das Bild eines Schweizer Politikers pinkeln. Der Skandal führte zu Millionenkürzungen im Etat des Kulturzentrums. Maurizio Cattelan stellte seinen vom Meteoriten erschlagenen Papst, zuvor wenig beachtet, in Polen aus. Darauf brachte ihm die Skulptur in New York satte drei Millionen ein. Albernheiten zahlen sich aus. Bock, Hirschhorn und Cattelan sind jetzt auch in Paris dabei.

Mit Blick auf die infantile Lust am Tabubruch ließe sich die Frage stellen, was aus den Trend-Künstlern wird, wenn sie einmal erwachsen sind. Macel stellt sie nicht. Sie spielt stattdessen ordentlich auf der philosophischen Luftgitarre, bemüht Nietzsches Begriff des Dionysischen, will sich auf Augenhöhe mit Fluxus und Wiener Aktionismus wiederfinden und bleibt doch nur im Spaß am Unmoralischen stecken.

Vor einigen Jahren stellte Macel fest, dass seit den neunziger Jahren das Gewöhnliche - französisch "l'ordinaire" - inszeniert wird. Heute ist es zum Ordinären nur ein kleiner Schritt. Gleich am Eingang lässt die Wiener Gruppe Gelatin aus einem Plüsch-Drachen, den Annette Messager oder Mike Kelly besser gemacht hätten, eine riesige rosa Zunge hängen. Zum Kotzen, soll man wohl denken. An den Wänden das Resultat: Collagen mit Knetmasse überarbeitet, Nackte, Fratzen, Masken - kurz: Grusel-Plastilin. Vorbei an Hirschhorns Alufolien-Höhle "Jumbo Spoon and Big Cake" von 2000, damals im Art Institute of Chicago aufgebaut, lockt der Lärm tiefer in die Ausstellung. Man wirft einen Blick auf die Knet-Bronzen von Jonathan Meese, wird von Paul McCarthys und Jason Rhoades' Affenzirkus erfasst: Leute in Affenmasken vollführen allerlei ekligen Tanz mit den einst bei der Documenta konservierten Exkrementen und machen dabei Krach oder reiben sich obszön am peinlich berührten Besucher.

Übelriechend gelangt man zu einer Reihe lebensgroßer bunter Bären, die ebenso bunt an die Wand urinieren. Amüsiert von Richard Jacksons Fäkalisierung der Pop-Art, betrachtet man einen der zwölf Zeichentrickfilme von Fabrice Hyber. Echte Trauben verwandeln sich in ihre Zeichnung. Man denkt an Zeuxis und die Wahrheit des Bildes, vielleicht gar an Dionysios, wegen der Weintrauben. Solch subtile Assoziationen sind schnell vergessen, wenn zum Schluss Kendell Geers noch einmal so richtig abspritzt: mit Tusche an die Galerien-Wände über Schablonen, die masturbierende Frauen zeigen. Er zeige, so der Begleittext, Erotik als etwas Gefährliches und Bedrohliches. Na ja, denkt man und verlässt die Hallen, vorbei an Gelatine, die übrigens zeitgleich in der renommierten Galerie Emmanuel Perrotin gezeigt werden, die gerade ins benachbarte Marais umgezogen ist.

Eklektizistisch zitiert "Dionysiac" Geistesgrößen, um Kindereien aufzuwerten, bemüht philosophische und kunsttheoretische Register, um der gespielten Unmoral einen bedeutsamen Anstrich zu geben. Der Besucher bleibt auf Distanz.

Zum Glück läuft zeitgleich in der vierten Etage des Centre Pompidou eine ausgezeichnete Ausstellung von Gina Pane. Die italienisch-österreichische Künstlerin, eine der wichtigsten Vertreterinnen der Body-Art in Frankreich, steht in einer Linie mit Brus oder Schwarzkogler. Mit mehr Witz: Die sechs beschmutzten Wattebäusche unter Plexiglas mit dem Titel "Eine Woche Menstruationsblut" von 1973 spielen locker die Buben von "Dionysiac" an die Wand.

"Dionysiac - art in flux", "Gina Pane, Earth - Artist - Sky": Centre Georges Pompidou, bis 16. 5.; Galerie Emmanuel Perrotin: Gruppenausstellung inkl. Gelatin bis 26. 3.

INTERNET 

www.centrepompidou.fr, www.galerieperrotin.com

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