Fruchtbarkeits- und Heilssymbol
Wie sehr bewundern wir die Orte unseres heutigen Wissens. Orte, die
immer höher, immer weiter und komplexer beschrieben werden. Betrachten wir
ein Problem, benutzen wir die Sprache, unsere denkende Sprache des
Analysierens, des Zerlegens und Sezierens. Um etwas zerlegen und zerteilen
zu können muss ein Etwas, eine Form vorhanden sein. Vielleicht liegt der
Beginn in der Geste des Webens, Strickens und Knotens. Beobachten wir die
Vögel beim Nestbauen, sehen wir, wie sie mit Schnäbeln ihre Nester
verweben, verknoten und flechten. Daraus entsteht eine tragfähige
Form. So könnte der Ursprung der Geometrie ein verborgener Anfang sein,
ein Beginn, der weiter zurückliegt als die Ankunft des Wortes. Jenseits
dieses Wortes liegt der Wunsch, etwas zu begreifen. Die Erfahrung nennen
es die einen, das Vergessen des Erlernten nennen es die anderen.
Danach folgt die Benennung.
Künstler haben seit jeher diesen Fragen nachgespürt. Sie sind in die
Formenwelt der eigenen Erinnerung gegangen, um danach ihren Ausdruck
zu finden. Aber auf diesem Weg begegnen sie der Last der
Komplexität. Stückweise wird sie entflochten, ohne das Ergebnis zu
kennen. |
Danach folgt die Benennung. Künstler haben seit jeher diesen Fragen
nachgespürt. Sie sind in die Formenwelt der eigenen Erinnerung gegangen,
um danach ihren Ausdruck zu finden. Aber auf diesem Weg begegnen sie der
Last der Komplexität. Stückweise wird sie entflochten, ohne das Ergebnis
zu kennen. Ohne das Ergebnis zu denken. Der Geist des Materials So
ist vielleicht auch der Bildhauer Constantin Brancusi zu verstehen, der
bei seiner Suche nach der ursprünglichen, reinen Form in den 30er-Jahren
sagte: "Während du den Stein behaust, entdeckst du den Geist des Materials
und seine Eigenschaften. Deine Hand denkt und folgt den Gedanken des
Materials." Das Ergebnis seiner Suche war: das Ei. Ezra Pound meinte
dazu: "Ich denke, dass Brancusi so weit abstrahierte, bis er eine Form
fand, die jenseits aller Schwere lag und freier war als alle anderen
geometrischen Formen." Ähnliche Ergebnisse finden sich in den Arbeiten von
Barbara Hepworth, die bei Brancusi eine Art "Bestätigung ihrer
Konzeptionen" fand und dies mit den Worten zum Ausdruck brachte: ". . . in
seinem Atelier hatte ich das wunderbare Gefühl der Ewigkeit . . ." Ist
es der Mythos der Ewigkeit, der in der Eiform verborgen liegt? Was
bedeutet das Ei für unsere Rituale und Feste heute? Das "kosmische Ei"
Mit diesen Fragen fand ich den Weg zu einem der renommiertesten
österreichischen Bildhauer der Gegenwart: Wander Bertoni. Gleichzeitig
besitzt er eine der umfangreichsten Eiersammlungen - von Grabbeigaben bis
zum Kitsch. In einigen seiner Arbeiten, den "Pomona-Paraphrasen" - benannt
nach der altitalienischen Gottheit der Baumfrüchte - findet man immer
wieder das männliche und weibliche Prinzip vereint als Zwittergeschöpf,
den so genannten Hermaphrodit. Die Doppelbedeutung liegt ebenso im
Lingam, einem Hermaphrodit, der in den tantrischen Tempeln verehrt wird.
Bertonis "indisches Tagebuch" erzählt vom so genannten "kosmischen Ei" und
seiner Bedeutung als altes Fruchtbarkeitssymbol.
Was bedeutet das Ei für den Sammler
Bertoni? Während des Besuchs in der "Gritsch-Mühle" bei Winden
im Burgenland wird der Umfang und die Mannigfaltigkeit der Sammlung
immer deutlicher. Wer einmal in Kontakt mit den unterschiedlichsten
"Eierkuriositäten" gekommen ist, der "beginnt womöglich selber zu
sammeln", meint Bertoni
schmunzelnd. |
Was bedeutet das Ei für den Sammler Bertoni? Während des Besuchs in
der "Gritsch-Mühle" bei Winden im Burgenland wird der Umfang und die
Mannigfaltigkeit der Sammlung immer deutlicher. Wer einmal in Kontakt mit
den unterschiedlichsten "Eierkuriositäten" gekommen ist, der "beginnt
womöglich selber zu sammeln", meint Bertoni schmunzelnd. Am Anfang stand
für ihn das Interesse für die Trägermaterialien, Holz, Stein, Bronze,
Keramik, Glas, ganz im Sinne des Bildhauers. Die Stücke waren durchwegs
"Geschenke von Freunden und Bekannten". Da sich Bertoni selbst als
Perfektionist begreift, war der Schritt zu Auktionen, Sammlerbörsen und
Museen nicht weit. Das Gebiet wurde grenzenlos und "als zwingende
Notwendigkeit" begann der Sammler sich mit der Symbolik des Eis zu
beschäftigen. Die meisten Eier wurden als "Opfer- und Grabbeigaben
verwendet oder als Fruchtbarkeits- und Heilssymbol", erklärt Bertoni und
fügt hinzu, dass das Ei in der Geschichte der Menschheit wahrscheinlich
eines der "wichtigsten Symbole für Geburt, Auferstehung und Hoffnung" sei.
Und damit wären wir unweigerlich in unserem Kulturkreis gelandet. Die
Sammlung Bertoni enthält wunderschöne, mit feinstem Pinsel gemalte Ikonen
auf Ei, Motive aus der russisch-orthodoxen Kirche. Neben einem Ei als
Geschenk an die Gläubigen als Zeichen dafür, dass "der Wahrhaftige
auferstanden ist", liegt ein Ei aus der Ukraine - ein "steinernes Zeugnis
der ältesten Fruchtbarkeitssymbole", das laut Bertoni die reine
Ornamentalik bei weitem übersteigt und uns hinführt zu einer "kraftvollen
Symbolik". Auch Herrscherhäuser liebten die Eiergeschenke, die allerdings
aufgrund ihrer Einfassung mit Gold und Edelsteinen damals wie heute für
private Sammler unerschwinglich waren. Leicht wehmütig denkt Bertoni
daran, wie ihm vor Jahren ein versteinertes Straußenei aus Madagaskar zu
einem astronomischen Preis angeboten wurde. Er musste schweren Herzens
ablehnen. Seine Lieblingsstücke lässt sich Bertoni noch immer gerne
schenken, seien es ein klassisches venezianisches Motiv, ein feines
chinesisches oder einfach Kitsch, der von irgendeinem Touristenstand
mitgebracht wurde. Ein Sammler freut sich, "weil es wieder eine
Kuriosität" ist oder eine Rarität - wie zum Beispiel das Ei einer Gans,
das von Seefahrern auf einer langen Reise kunstvoll bearbeitet wurde und
als Motiv den Kampf mit den so genannten Seeungeheuern zeigt. Wie
passt das Sammeln und Hüten einer so umfassenden Privatsammlung zu einem
Künstler? "Ich hasste Sammler immer. Für mich waren das Fanatiker, die mit
meinem Ansatz von Besitzlosigkeit als Ausdruck von Freiheit nichts zu tun
hatten." Freilich ist Bertoni jetzt etwas milder gestimmt. Seine Sammlung
umfasst mittlerweile rund 3.000 Stück - und eines ist origineller als das
andere. Zeitlich reihen sich die Jahrhunderte Ei an Ei - in den
unterschiedlichsten Größen und Darstellungen. Die Faszination für das
Sammeln erklärt sich schon allein aus der Vielfalt an Möglichkeiten.
Glückwunsch auf Ei Naturei oder Kunstei, geritzt, geschliffen,
bemalt, beklebt, ziseliert, zu einem Objekt verformt, eingearbeitet in
eine ganze Darstellungsgruppe, oder als Salz- und Pfefferstreuer für die
tägliche Verwendung gedacht. Bertoni hält vorsichtig ein bunt verziertes
Ei in der einen Hand. Mit der anderen Hand zieht er ein Spruchband aus dem
Inneren des Eis hervor. Wünsche, Glückwünsche zur Hochzeit, zum
Geburtstag, für das Osterfest, Liebesgedichte und ähnliches ersetzten
früher die Glückwunschkarte oder den E-Mail-Gruß. "Die Kugel ist die
absolute Form. Wird die Kugel zusammengedrückt, entsteht das Ei." Bertoni
erklärte seinen Studentinnen und Studenten bereits vor Jahren anhand
dieses Beispieles den Beginn für Ausdruck per se. Obwohl der Künstler in
seinen Arbeiten zumeist andere Archetypen verfolgt, wie etwa die Säule,
ist sein Interesse für die Synthese von männlichen und weiblichen
Prinzipien spürbar, wenn er meint: "Minarette, Türme, das waren immer
schon männliche Prinzipien. Die Kirche allerdings - ecclesia - ist die
Mutter, also weiblich." Geplantes Eiermuseum Überlegt man die
Bedeutung des Wortes "religio", kommt man schlecht umhin, Verbindung und
Verbundenheit, die Sehnsucht nach dem so genannten Einswerden mit allen
Dingen und Lebewesen zu spüren. Dieses Spüren ist auch in den Augen des
Sammlers zu sehen, wenn er an seine nächste Vision denkt, neben seinem
"Bertoni-Kunstmuseum" ein Eiermuseum zu bauen. In Turmform. Somit ist es
nicht weiter verwunderlich, dass bildende Künstler auf der Suche nach
Harmonie, Übereinstimmung von Form und Inhalt und letztendlich auch
Klarheit in ihrem Schaffensprozess in irgend einer Art zur Eiform
gelangen. Steht doch das Ei in fast allen Kulturen - bei den Peruanern
genauso wie bei den Indern und Griechen - als Ausgangspunkt des Schaffens.
Beim Weggehen von Wander Bertoni denke ich an das Paradoxon der Worte und
stecke wie selbstverständlich einen eiförmigen Stein in die Tasche - dort
am Rande des Baches. Quasi als Erinnerung an die Begegnung.
Erschienen am: 29.03.2002 |
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