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20. März 2003,  03:09, Neue Zürcher Zeitung

Neue Kunst im neuen Staat

Eine Wiener Ausstellung zu Polens Aufbruch in die Moderne

Monumental waren 1918 die ästhetischen Versuche, dem «neuen Staat» Polen Selbstbewusstsein zu geben, monumental wirkt auch das Atrium des Wiener Leopold-Museums, wenn dort polnische Nationalmythen von einst ihren Auftritt haben. Grossformatige Plakate feiern die junge Republik der zwanziger Jahre, in einem nachgebauten Kino läuft (wer weiss, warum) ein Film über das Begräbnis des diktatorischen Generals Jozef Pilsudski. Dem politischen Entrée folgt eine Ausstellung, die mit dosierteren Mitteln den höchst gelungenen Versuch unternimmt, die polnische Kunst der Zwischenkriegszeit umfassend zu dokumentieren.

Über 200 Werke aus Malerei, Skulptur, Zeichnung, Kunstgewerbe, Plakat, Film und Photographie werden in der Ausstellung «Der neue Staat - Polnische Kunst 1918-1939» gezeigt, in einzelnen Abschnitten sind die künstlerischen Standorte zwischen Experiment und Repräsentation zu sehen. Einen ordnenden Eingriff allein nach dem Merkmal haltbarer Qualität hat man nicht vorgenommen. Und so ist in Wien neben der Moderne die polnische Antimoderne zu sehen, neben gehobener Volkskunst die Avantgarde des Konstruktivismus.

Kosmopolitische Strömungen

Nach 123 Jahren Fremdherrschaft erlangte Polen 1918 die Unabhängigkeit. Bis 1939 hat der neue Staat bestanden, die Normalität einer selbständigen Republik war nicht von langer Dauer. Dennoch bietet die polnische Kunst der Zwischenkriegszeit ein erstaunliches und kaum noch entdecktes Konglomerat der Stile, eine Mischung aus europäischem Aufbruch und Rückbesinnung auf die Volkskunst. Das nationale Selbstbewusstsein musste sich erst konstituieren, die Formeln dazu kamen aus verschiedensten Strömungen der Moderne. Und so hat das Museum Leopold in seiner bisher grössten Sonderausstellung die polnische Kunst der Zwischenkriegszeit in ästhetische Richtungen gegliedert. Der plakative, an Otto Dix erinnernde Realismus der Porträts von Roman Kramsztyk findet sich neben den klassizistischen Bildnissen Ludomir Slendzinskis, die aufgeraute monochrome Fläche von Wladyslaw Strzeminskis «Unistischer Komposition 10» neben Dada-Collagen von Kazimierz Podsadecki. Es gibt den polnischen Expressionismus, einen eigenständigen Kubismus und den Futurismus, die «Koloristen» experimentierten auf dem Feld der Farben, und späte Impressionisten erklärten das Stillleben zur wahren Herausforderung der Kunst. Die polnische Malerei der Zwischenkriegszeit war vieles. Sie war durch ihre engen Kontakte nach Paris oder Wien kosmopolitisch, und sie spiegelte die zahllosen Brüche eines lange fremdbestimmten Landes wider, dessen Volk äusserst heterogen war.

In der Zwischenkriegszeit stand der Wunsch nach einem Aufbruch in die Moderne neben einer Rückbesinnung auf die Wurzeln polnischer Kunst. Hoch ideologisch wurden die Auseinandersetzungen geführt. Wie kaum anderswo gab es in Polen eine Konstitution der Moderne in Künstlergruppen. Die aus dem Expressionismus kommenden «Formisten» arbeiteten in Krakau, in Posen gab es die ebenfalls expressionistische Gruppe «Bunt», in Lodz «Jung Idysz». Später radikalisierte sich die Avantgarde im Konstruktivismus und hatte in der Formation «Rytm» einen gemässigt modernen Gegenspieler, der auch die Wertschätzung staatlicher Stellen genoss.

Die ästhetische Repräsentation der neuen Republik wurde vor allem durch die Bildhauerei besorgt. Plastiken mit Hang zum Monumentalen hat Edward Wittig mit seiner «Polnischen Nike» und seiner Skulptur «Entwurf eines Fliegerdenkmals» geschaffen. Auch der Übergang von der Agrar- zur Industriegesellschaft im Polen der dreissiger Jahre ist ein wichtiges Sujet. Nicht wenige Bilder der Ausstellung zeigen den Prozess der Industrialisierung. Düster sind Bronislaw Wojciech Linkes Zyklen moderner Zeiten, etwa unter dem Titel «Stadt», Rafal Malczewski setzt in seiner Serie «Schwarzes Schlesien» die «Kühltürme in Chorzow» ins visionäre Licht der technisierten Zukunft. Die politische Zukunft des Landes - sein Ende - setzt Leon Chwistek ins Bild. Dunkle Panzer bedrohen eine machtlose Kavallerie. Titel: «Der Krieg im Jahre 1939».

Apokalyptiker

Im Mittelpunkt der Wiener Ausstellung stehen zwei Universalisten, die die Kunst der Zwischenkriegszeit nicht nur durch ihr bildnerisches Werk nachhaltig beeinflusst haben, sondern auch durch einen weit darüber hinausgehenden Diskurs. Stanislaw Ignacy Witkiewicz, genannt Witkacy, und Leon Chwistek waren die wichtigsten Antagonisten der polnischen Kunst der zwanziger und dreissiger Jahre. Witkacy war ein Kulturpessimist, der seine apokalyptischen Visionen der Zukunft in düster photographierten und gemalten Porträts und Selbstporträts festhielt. Leon Chwistek war Mathematiker und Philosoph, sein Anliegen war es, die prinzipielle Pluralität der Wirklichkeit in der Kunst nicht aufzuheben, sondern darzustellen. Chwistek entwickelte den «Strefismus», einen Versuch, die Fläche des Bildes in farblich voneinander getrennte Wirklichkeiten der Objekte, in «Zonen», aufzuteilen. Der radikale Nonkonformist Witkacy, der mehrmals auch Leon Chwistek porträtierte, machte in zahlreichen Photographien das eigene Gesicht zum Spiegel einer existenziellen Ausweglosigkeit. 1939, unter der drohenden Gefahr Nazideutschlands, begeht er Selbstmord. Andere polnische Künstler hatten die Hoffnung noch nicht aufgegeben. Mit dem Schiff reisten sie 1939 zur Weltausstellung nach New York, die unter dem Titel «Die Welt von morgen» stattfand. Zurück nach Polen konnten sie nicht mehr.

Paul Jandl

Bis 31. März. Katalog: Der neue Staat. Zwischen Experiment und Repräsentation. Polnische Kunst 1918-1939. Hatje-Cantz- Verlag, Ostfildern 2003. 352 S., Euro 39.20.

 
 
 

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