DER STANDARD, 08. April 2002 |
Entwurf einer anderen
Welt
Mit einem Plädoyer für ein anderes
Verhältnis zur Zeit und für die Kraft utopischer Bilder beendete Alexander
Kluge am Sonntag im Volkstheater die Matineereihe "Globalisierung und
Gewalt. Perspektiven nach dem 11. September".
Richard Reichensperger
Wien - "Ein Autor ist nicht dazu da, in
der Gegenwart Volksreden zu halten": Alexander Kluges Auftrittssatz auf
der Volkstheater-Bühne machte bei der letzten der drei Sonntagsmatineen
Globalisierung und Gewalt. Perspektiven nach dem 11. September
sofort deutlich, was der Intellektuelle den 700 Zuhörern nicht liefern
würde: keine globalen Sätze zur Globalisierung.
Stattdessen Denkbewegungen, das Thema
umkreisende Geschichten aus seinem Riesenwerk, das Kluge - begleitet von
vorantreibenden Zwischenfragen des
STANDARD-Kulturressortleiters Claus Philipp - behände
abschritt. In der Tradition der "Frankfurter Schule" ist Alexander Kluge
der Archäologe des Gefühls. In Montagesammlungen (zuletzt: Chronik der
Gefühle und - gemeinsam mit Oskar Negt - Der unterschätzte
Mensch) trug Kluge zusammen, was er für die Grundlage von Gesellschaft
hält:
Die Bedeutung des Privaten - Erziehung, Arbeit
- vor dem dieses dann dennoch unterjochenden Öffentlichen. Für Kluge
erscheinen an der Schwelle zum 21. Jahrhundert die "Maßverhältnisse"
zwischen privatem Gefühl und öffentlichem Diktat noch einmal in ein
bedrohliches Gleiten geraten: Einerseits fänden im Augenblick im Nahen
Osten eindeutig Kriegshandlungen statt, doch niemand spreche von Krieg;
andererseits sei nach dem 11. September ein "Krieg" an "unbekannt" erklärt
worden. Einseitiger Krieg ändert aber die Maßverhältnisse: "Es gibt einen
Antirealismus des Gefühls: Wenn etwas zu plötzlich geht, kommt das Gefühl
nicht mit. Sofort wird aber Handlung diktiert."
Immer vom Sinnlichen ausgehend, entwickelte
Alexander Kluge im Volkstheater auch eine Sprachkritik an der einseitigen
und inflationären Verwendung von Wörtern wie "Globalisierung" und
"Gewalt": Ließe sich Globalisierung - statt einsinnig wie die
Zeichensprache der Global Players - nicht vielsprachiger fassen? Als
Prozess nämlich, wie ihn schon Immanuel Kant entworfen hätte: Mönchisch in
seiner Königsberger Stube, hätte er nachgedacht über "global" im Sinne
eines Wanderns über den Globus mit Möglichkeiten der Begegnung, juristisch
gestützt auf das Gastrecht.
Eine Sprachkritik
Im Abkappen solcher Begegnungsmöglichkeiten
sieht Kluge auch die eigentliche Verschärfung nach dem 11. September, und
so versteht er den Begriff "Gewalt": Es gibt auch eine Gewalt, "die auf
Ausgrenzung und Nichtbeachtung beruht. Europa ist auf dem Weg zu neuen
Verbrechen: einer Gleichgültigkeit, die alles töten kann". Und in dieser
ausgrenzenden Gleichgültigkeit lägen auch einige der Ursachen für Krieg
und Terror. Das Gegenprogramm: nicht immer reflexhaft reagieren.
Stattdessen: Beachtung längerer Zeitprozesse, die von der hastigen Politik
abgeschnitten werden. Beispiel Tschernobyl: Die Halbwertszeit der
Natur-Elementarteilchen beträgt 300.000 Jahre, diejenige der
Entscheidungsträger aber nur zweieinhalb. Viel länger wirken, so weiß
Kluge, vergrabene, vergessene Erfahrungen und die Metaphern von Dichtern:
Tolstoj stellte seiner Selbstmörderin Anna Karenina am Romanende eine
Kerze hin - diese, inzwischen in das Bildgedächtnis der Masse eingegangen,
tauchte wieder auf: beim Begräbnis der Lady Di.
Und so tauchte jetzt auch in Afghanistan
Verschüttetes wieder auf: eine eingegrabene dritte Buddha-Statue: Bild
einer vorsichtigeren künftigen Gesellschaft.
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